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Die Bremer Stadtmusikanten und "Segen und Fluch" (Allgemein)

hütchen @, köln, Samstag, 05.12.2020, 17:07 (vor 1447 Tagen) @ hütchen

Birgit Hallerbach, eine Sülzer Bürgerin, hat uns geschrieben. Hier ihre Mail:
Endlich stehen sie wieder in Köln Sülz, die Bremer Stadtmusikanten. Sie sind unübersehbar auf dem Gelände des ehemals größten Kinderheims Europas, in dem 22500 Kinder zwischen 1917 bis 2010 ihre Kindheit oder zumindest einen prägenden Teil ihrer Kindheit und Jugend verbracht haben.

Beinahe wäre die 1968 von Fritz Bernuth (1904 – 1979) geschaffene, 1,5m hohe Bronzestatue im Zuge der Neubebauung des Geländes achtlos aussortiert worden – ähnlich dem Schicksal der vier Märchenhelden in dem Volksmärchen der Brüder Grimm: Der Esel sollte „aus dem Futter geschafft werden“, der Hund totgeschlagen, die Katze ersäuft und der Hahn in der Suppe landen.

Doch die Statue wurde gerettet und verkündet nun wieder die optimistische Botschaft einer möglichen Heilung oder Rettung: Die vier Helden teilen eine leidvolle Geschichte:
Sie sind ausgerechnet seitens der Menschen, für die sie Schutzbefohlene sind von grausamen Gräueltaten bedroht und das, obwohl sie sich nichts zu Schulden kommen lassen haben. Im Gegenteil: Sie sind treue, vertrauensvolle Tiere, die einen respektvollen Umgang und liebevolle Fürsorge verdient hätten.
Dass sie ihrem Schicksal entgehen, liegt daran, dass sie sich trotz ihrer leidvollen Erfahrung ein Stück ungebrochenen Optimismus , Kraft und Kreativität bewahrt haben. Heute würde man sie „resilient“ nennen. Sie sind widerstandsfähige Helden, an denen Belastungsfaktoren abprallen, weil sie wirkmächtige Schutzfaktoren entwickelt haben.
Der Esel, dessen Kräfte schwinden, gibt nicht auf, als er merkt, dass „kein guter Wind weht“. Er entwickelt einen Plan B. Er läuft fort und macht sich auf den Weg nach Bremen um dort Stadtmusikant zu werden. Er vertraut seinen Fähigkeiten und dem Leben als solchem.
Und er findet Verbündete, die er in seine schlichte Vision einlädt. Dem Jagdhund, der sich müde gelaufen hat und der ebenfalls „Reißaus“ genommen hat, bietet er an, dass dieser in Bremen die Pauken schlage, während er selber die Laute spiele.
Die Macht dieser vermeintlich abwegigen inneren Bilder und der feste kindliche Glaube an den Sehnsuchtsort Bremen trägt das Duo weiter. Und als sie auf die verzweifelte Katze treffen, die ein Gesicht macht „wie sieben Tage Regenwetter“ muntern sie diese mit einem schlichten Verweis auf deren besonderen Fähigkeiten auf: „Du verstehst dich doch auf Nachtmusik“. Sie zeigen ihr mit dem Kindern eigenen Pragmatismus einen schlichten Weg aus der vermeintlichen Perspektivlosigkeit auf, indem sie auch ihr mitteilen sie könne ja Stadtmusikant werden. Durch diese magische Lösung, locken sie die Katze aus ihrer Problemtrance zurück in die Handlungsfähigkeit.
Gemeinsam trifft dieses entzückende Trio dann auf den Hahn, der seinen Schmerz über sein erbarmungsloses Umfeld „aus Leibeskräften“ herausschreit. Sie beruhigen ihn indem sie ihm in nur einem Satzeine bedeutsame Ressource spiegeln: „Du hast eine gute Stimme“. Und sie gewinnen ihn für ihren Plan, indem sie ihm eine schlichte Wahrheit vor Augen halten „etwas Besseres als den Tod findest du überall!“
Sie erkennen, dass gerade in ihrer Unterschiedlichkeit eine Chance liegt „wenn wir zusammen musizieren, so muss es eine Art haben.“

Über die tiefe Qualität ihrer Beziehungen erfahren wir vermeintlich wenig. Ob sie tatsächlich Freunde geworden sind, vielleicht sogar für’s Leben, bleibt ungewiss. Es ist vielleicht auch von untergeordneter Bedeutung. Sie geben sich neue, coole Namen , Grauschimmel, Packan, Bartputzer und Rothkopf. Angesichts ihrer prekären Lage reicht es vielleicht, dass sie eine grundlegende Solidaritätsfähigkeit entwickeln, gemeinsames Handeln mit gemeinsamem Ziel, im wahrsten Sinne des Wortes tragfähige Beziehungen, in der die Natur jedes einzelnen fraglos anerkannt wird und jeder für die anderen mit Verantwortung übernimmt.

So überlisten sie gemeinsam die Bösen, finden ein Heim, in das sie gemeinsam musizierend mit all ihrer Kraft durch das Fenster in die Stube hineinfallen, „dass die Scheiben klirren“. Dass dieses Heim gar nicht Bremen ist, spielt gar keine Rolle. Hier beheimaten sie sich.

Ob das Kinderheim in Sülz für alle Kinder ein guter Ort, eine Heimat war, ist zu bezweifeln. Viele fanden ihre Heimat erst, nachdem sie von hier aufbrechen konnten und durften.
Dennoch passen die Märchenhelden gut zu diesem Ort, denn sie halten die Erinnerung wach an Leid und symbolisieren Hoffnung, Vertrauen und Mut.
Das gilt den Kindern, die früher hier lebten wie den Kindern, die heute hier leben und denen, die in Zukunft hier leben werden.

(Frau Hallerbachs Mutter (heute etwa 80 Jahre alt) hat als junge Frau Mai 1956 im Kinderheim gearbeitet, als berufliches Praktikum o.ä.. Ihren Praktikumsbericht hat Frau Hallerbach noch.)

--
Langzeitstudentin der Toleranz!


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