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bleakhouse, Donnerstag, 21.08.2014, 06:34 (vor 3745 Tagen)

Ein Leben voller Hürden - Körperliche, seelische und sexuelle Gewalt

In Ost und West wurden zahllose Heimkinder Opfer von Gewalt. Die Fonds, die sie entschädigen sollen, haben jetzt schon kein Geld mehr. Zudem klagen die Betroffenen über eine demütigende Bürokratie. Nun könnte alles noch schlimmer werden

Von Matthias Drobinski

München – Wie kommt man zu einem Kostenvoranschlag für Unterhosen und Socken? Man kann zum Beispiel ins Kaufhaus gehen und, leicht errötend, die Verkäuferin ansprechen: „Entschuldigen Sie, kaufen darf ich noch nichts. Ich bekomme aber Geld, um etwas zu kaufen, wenn Sie mir schriftlich bestätigen, was bei Ihnen Unterhosen und Socken kosten, nicht dieses teure Designerzeugs, sagen wir: mittlere Qualität. Und könnte vielleicht Ihr Abteilungsleiter unterschreiben?“ Auch beim durchschnittlichen Konsumenten würde da das Einkaufsvergnügen leiden. Für jemanden, dessen Selbstvertrauen gebrochen ist, weil er einst im Kinderheim geschlagen und gedemütigt wurde, ist diese Prozedur aber möglicherweise ein Grund, lieber mit abgerissenen Klamotten herumzulaufen, statt sich neue zu besorgen, obwohl er darauf einen Anspruch hätte.

Es sind solche Geschichten, die Wolfgang Bahr empören, einen der Sprecher der „Arbeitsgemeinschaft ehemaliger Heimkinder Deutschland“ (AeHD): Opfer von Gewalt in den Heimen der Bundesrepublik und der ehemaligen DDR müssen nun tatsächlich einen Kostenvoranschlag beibringen, wenn sie Sachleistungen aus dem Fonds erhalten wollen, der sie für das erlittene Unrecht entschädigen soll.

„Als die beiden Fonds für die ehemaligen Heimkinder in Ost- und in Westdeutschland beschlossen wurden, hieß es, die Hilfe solle möglichst unbürokratisch bereitgestellt werden“, sagt er, „wir erleben aber das Gegenteil.“ Viele ehemalige Heimkinder sähen sich dadurch erneut gedemütigt. Andere misstrauten seit ihren Erfahrungen in staatlichen oder kirchlichen Heimen in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren jeglicher Bürokratie und Autorität. Wieder anderen fehle die Energie, sich auf die Auseinandersetzung mit den Behörden einzulassen. „Wir sollen halt möglichst wenig kosten“, mutmaßt Wolfgang Bahr.

Nun dürfte es neue Hürden für die Betroffenen geben; an diesem Donnerstag soll sie der „Lenkungsausschuss Fonds Heimerziehung“ in Berlin beschließen, jenes Gremium, in dem Bund, Länder sowie die Vertreter der Kirchen und Sozialverbände entscheiden, zu welchen Bedingungen das dem Fonds bereitgestellte Geld ausgegeben wird. Der Grund dafür ist eigentlich positiv: Die Sachleistungen und Kostenübernahmen zum Beispiel für Therapien, die es seit Anfang 2012 gibt, werden besser angenommen als gedacht. Bis zum 30. Juni registrierten die regionalen Anlaufstellen mehr als 12000 Betroffene; allein im April gab es 700 Erstberatungsgespräche. Fast 4000 Anträge waren Ende Juni noch nicht bearbeitet – auch das führt zu Frust bei den ehemaligen Heimkindern.

Vor allem aber: Der Erfolg kostet Geld – viel mehr Geld, als Bund, Länder, Kirchen und Sozialträger bislang in die beiden Hilfsfonds eingezahlt haben. Im Frühjahr meldete bereits der Ost-Fonds Finanznot; nun heißt es in einem internen Schreiben des Bundesfamilienministeriums an die Mitglieder des Lenkungsausschusses: „Durch eine unerwartet hohe Inanspruchnahme des Fonds sind die bisher eingeplanten Mittel Anfang August (...) vollständig gebunden.“ 2012 standen den Fonds je 120 Millionen Euro zur Verfügung. Das Geld ist weg, verplant, angeblich gibt es im Osten 160Millionen Euro Mehrbedarf, im Westen 110 Millionen Euro. Kritiker hatten das schon vor drei Jahren vermutet – jetzt ist die Situation da.

Die nächste gute Nachricht: Der Bund und auch die Kirchen haben sich grundsätzlich bereit erklärt, die beiden Fonds aufzustocken. „Damit geben wir ein klares politisches Signal an die Betroffenen, dass die Fondseinrichter zu ihrem Wort stehen“, heißt es in dem Ministeriums-Brief. Allerdings möchte der Bund dafür eine Gegenleistung: Die Ausgaben sollen künftig strenger kontrolliert werden. Vor allem Leistungen außerhalb von Therapie, Qualifizierung und der Vorsorge fürs Alter sollen, so heißt es im Schreiben des Familienministeriums, „einer vertieften Überprüfung unterzogen werden“. Bisher konnten dort bis zu 10000 Euro an Soforthilfen für Bedürftige relativ unbürokratisch bewilligt werden. Ein Handbuch solle künftig für alle Anlauf- und Beratungsstellen regeln, welche Leistung bezahlt werden kann. Stimme der Lenkungsausschuss dem nicht zu, gebe es kein Geld vom Bund; dann „stünde ein Vergabestopp im Raum, den keiner wollen kann“.

Dass es mehr Geld gibt, findet Heimkinder-Sprecher Wolfgang Bahr gut, dass kontrolliert wird, wenn Geld fließt, dagegen hat er im Grunde nichts: „Aber so wie geplant, erhöht sich vor allem der bürokratische Aufwand zu Lasten der Betroffenen“. Schon jetzt machten es zahlreiche Regelungen den Betroffenen schwer, an Leistungen zu kommen. Im Osten müssen sie bis 30. September ihre Ansprüche anmelden, im Westen endet die Frist erst am 31. Dezember. Sie können in der Regel nur noch einmal einen Antrag auf Leistungen stellen – haben sie etwas vergessen oder taucht ein neuer Bedarf auf, zum Beispiel, weil sie krank werden, wird es schwierig.

Und wer die 10000 Euro nicht nutzt, weil er sparsam ist, hat Pech gehabt. Bahr berichtet von einem Betroffenen, der misshandelt wurde und heute auf eine behindertengerechte Wohnung angewiesen ist. „Der Kostenvoranschlag betrug 3500 Euro, der Umbau kostete nur 3000 – die 500 Euro waren weg.“ Das müsse man ändern – „und nicht noch Menschen, die es schwer im Leben hatten, ein paar Schwierigkeiten oben drauf packen.“Etwa 700000 bis 800000 Kinder und Jugendliche lebten in der Zeit von 1949 bis 1975 in Heimen in der Bundesrepublik Deutschland. Überwiegend befanden sich diese Heime in kirchlicher Hand (65 Prozent). Ein weiterer Teil wurde von der öffentlichen Hand (25 Prozent) sowie von anderen freien Trägern und Privatpersonen (10 Prozent) betrieben. Der Heimaufenthalt vieler ehemaliger Heimkinder war vielfach von traumatisierenden Lebens- und Erziehungsverhältnissen geprägt. Auch in DDR-Heimen waren Zwang und Gewalt für viele Säuglinge, Kinder und Jugendliche zwischen 1949 und 1990 eine alltägliche Erfahrung, vor allem in den Spezialheimen der Jugendhilfe wurden Menschenrechte verletzt. Den Betroffenen wurden schulische und berufliche Bildungsmöglichkeiten verweigert und sie wurden zur Arbeit gezwungen. Die Erlebnisse in den Heimen führten zu Beeinträchtigungen der Lebenschancen der Betroffenen, die bis heute teilweise traumatisch nachwirken. Es geht dabei um körperliche, seelische und sexuelle Gewalt.

Viele Menschen, die als Jugendliche in Erziehungsheimen untergebracht worden waren, leiden noch heute unter den Stigmatisierungen „verwahrlost“, „nichts wert“, „aus der Gosse“. Und oft sind sie später von Menschen, die von ihrer damaligen Unterbringung im Erziehungsheim wussten, dementsprechend behandelt worden. Infolge der Demütigungen haben sich viele Betroffene auch im späteren Leben nicht zur Wehr gesetzt und lieber Ungerechtigkeiten hingenommen, bilanzierte der „Runde Tisch Heimerziehung“ 2010.

Verlag Süddeutsche Zeitung
Datum Donnerstag, den 21. August 2014
Seite 6


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