Sternbericht von 1980 (Presseberichte)
Teil 3 des Sternberichtes von 1980
„Das wir wohl wieder so eine Geschichte über die armen Heimkinder.“ Den Satz bekam ich hier öfters von Kindern zu hören, er traf mich jedesmal wie eine Ohrfeige. Ich sah den alten Adenauer vor mir, der in diesem Heim alle Jahr zur Weihnachtszeit die Köpfchen streichelte. Die Kinder wehren sich gegen das Mitleid, das sich an ihnen austobt, und in dem Wort „Heimkind“ sehen sie die Diskriminierung. „Was ist denn so interessant an uns! Wir sind doch ganz normale Menschen“, sagt mir ein kleiner Junge.
Daß sie keine „normalen Menschen“ sind, dass bekommen sie nicht nur drinnen zu spüren. Draußen gehört das Mitleid noch zum Besten, was ihnen begegnen kann. Nach Möglichkeit versuchen sie ihre Adresse geheimzuhalten. „Wenn draußen jemand erfährt, daß du aus dem Heim kommst, dann fällt bei denen doch sofort die Klappe“, sagt Monika, „dann bist du unten durch, ein Verbrecher, ein Asozialer.“
Da das Heim nicht anders den als Strafe von den Kindern empfunden werden kann und es für eine Strafe einen Grund geben muß, machen sie sich selbst zum Schuldigen und sagen: „Ich bin hier wegen Klauen“, wie ein Knacki im Knast. Draußen bekommen sie das bestätigt, und so, rundum wie Verbrecher behandelt, werden sie es dann oft auch.
„Heime produzieren Heimkinder“, sagt da Costa Gomez. Er versucht nach Kräften, die Produktion ins Stocken zu bringen. Er bemüht sich darum, daß die Familien mit pädagogischen und finanziellen Hilfen „behandelt“ werden, um den Kindern die Rückkehr ins Elternhaus zu ermöglichen. Wo das nicht möglich ist, versucht er, die Kinder in Pflegefamilien oder zur Adoption zu vermitteln. In den letzten sechs Jahren wurden so 322 Kinder in Familien untergebracht, „schwierige“ Kinder zum großen Teil, nach gängiger Heimauffassung „nicht familienfähig“.
„Es gibt keine schwierigen Kinder, es gibt nur schwierige Erzieher“, sagt da Costa Gomez. „Kinder wehren sich mit ihrer ganzen Kraft gegen ihre Lebenssituation, so wie sie hier ist. Und diese gesunde Reaktion wir dann mit dem Etikett „schwierig“ belegt.“
Er hat seine Erfahrungen mit schwierigen und schwierigsten Kindern. Mit dem fünfjährigen Rolf etwa. „Der hat Sachen gemacht, das können Sie sich nicht vorstellen. Der hat den anderen Kindern nachts im Schlaf Drahtschlingen um den Hals gelegt.“ Eines Tages kam die Erzieherin, total geschafft, mit Rolf in sein Büro. „Da stand der Junge zwischen meinen Knien, und dann fing er plötzlich an zu schreien, wie ein Tier zu schreien: ‚Schlag mich tot! Schlag mich tot!’ Da wußte ich, daß was passieren mußte.“
Im Heim arbeitete damals eine Praktikantin, die „es“ hatte, „das, was man nicht in der Schule lernt“. Die kümmerte sich dann ausschließlich um den kleinen Rolf. Nach einem halben Jahr war Rolf okay, er wurde zur Adoption vermittelt und besucht heute das Gymnasium. „Wenn ich seinen Schrei damals nicht gehört hätte, dann wäre der Rolf heute in der Psychiatrie.“
Wenn man Kinder von Objekten erzieherischer Maßnahmen zu Partnern einer Beziehung macht, ihnen auf deutsch „Liebe und Geborgenheit“ vermittelt, sind solche Erfolge wie mit Rolf möglich. Im Heim geht so was nur in Ausnahmefällen und gegen die Routine. In der Regel werden solche Kinder als Schwarzer Peter von Heim zu Heim geschoben.
Diese Kinderverschiebungen haben nachgelassen in den letzen Jahren. Die Heime überlegen es sich heute dreimal, bevor sie ein Kind abgeben: Die Kinder werden knapp. Durch den Geburtenrückgang ist auch die Zahl der Heimkinder gesunken, in den letzten Jahren um etwa ein Drittel. „Der Krieg um die Kinder ist ausgebrochen“, sagt da Costa Gomez.
Die freien Heimträger, allen voran Diakonisches Werk und Caritas, die noch vor einigen Jahren volle Häuser hatten, müssen heute bei den Jugendämtern Klinken putzen wie Vertreter. „Wenn die Heime langfristig existieren wollen, sind sie davon abhängig, daß die örtlichen Jugendämter ihnen Kinder und Jugendliche zuweisen“, heißt es in einer Studie des Diakonischen Werks.
Zu diesem „langfristigen Existieren“ wird jedes Kind gebraucht, weil die Heime ihre Kosten nicht pauschal erstattet bekommen, sondern pro Kinderkopf bezahlt werden. In diesem Pflegesatz sind alle Kosten, einschließlich der Investitionen für Gebäude und Einrichtung, enthalten. Sinkt die Auslastung unter eine gewisse Grenze, ist der Betrieb nicht mehr rentabel, und das Heim muß dichtmachen wie ein Hotel auch.
Auf einer Sitzung des Kölner Jugendwohlfahrtsausschusses beklagte sich Pfarrer Volker Zepel vom Diakonischen Werk bitter über die „unkollegiale Zusammenarbeit“ des Jugendamtes, das da Costa Gomez’ kommunalem Heim zu viele Kinder zuteile. Wo man sie dann auch noch laufen läßt: Von den 318 Neuaufnahmen des Jahres 1981 waren am Ende des Jahres nur 18 im Heim. 195 kamen in ihre Familie zurück, 52 wurden in Pflegefamilien und zur Adoption vermittelt, zehn wegen Volljährigkeit entlassen, und 43 wurden anderen Heimen übergeben. Die durchschnittliche Verweildauer beträgt zwei Jahre. In den Heimen der freien Träger im Kölner Raum liegt sie bei zehn Jahren – welches Hotel schmeißt schon seine zahlenden Gäste auf die Straße.
Herr Gomez ist nicht wohlgelitten in Heimkreisen. Die CDU-Fraktion hat schon einmal, „aus Rentabilitätsgründen“, die Schließung seines Heims gefordert. Die Kinder sollten den freien Trägern zugeschlagen werden. Da Costa Gomez wehrte sich erfolgreich. „Ich kämpfe auch um die Kinder. Aber damit sie nicht in irgendwelchen Heimen verschwinden.“
Das „Wohl des Kindes“ ist auch eine Frage der Marktlage. Wie viele Kinder ins Heim kommen, bestimmen die Jugendämter. Wie viele wieder entlassen werden, die Heime. Ein Heimleiter, der „eigentlich auch lieber den Kindern das Heim ersparen möchte“, sagte mir: „Ich darf nicht nur an die Kinder denken, ich habe ja schließlich auch eine Verantwortung gegenüber meinen Mitarbeitern.“
Um ihre Gäste zu behalten, schrecken sie vor nichts zurück. „Der Kinderklau geht um“, sagt mir Georg Endemann, Regierungsdirektor in Hannover und bis vor einem Jahr zuständig für die Heimaufsicht in Niedersachsen. „Wenn's sein muß, arbeiten die Heime ohne Skrupel mit falschen Diagnosen und falschen Berichten, um die Kinder nicht rausgeben zu müssen.“
Heime sind sicher notwendig. Man braucht Auffangstationen für Kinder in Notsituationen. Denn keinesfalls ist wahr, daß die schlechteste Familie besser wäre als das beste Heim. Nur: Das beste Heim kann niemals Familie ersetzen.
„Was im deutschen Heimwesen läuft, ist ein Verbrechen“, sagt Hans Dieter Schink. Er ist ein bekannter Mann in deutschen Heimen. In manchen hängt sogar sein Foto an der Pforte. Allerdings nicht überm Weihwasserbecken: Herr Schink hat Hausverbot in fast allen deutschen Heimen. Schink war bis vor kurzem ein Franziskanerpater. Vor zwölf Jahren gründet er in Münster die „Gesellschaft für Sozialwaisen“ (Geso), eine überregionale Adoptions- und Pflegekinderzentrale. Die „Geso“ arbeitete erfolgreich. Pater Schink holte die Kinder reihenweise aus den Heimen. Dies Wirken mißfiel bald seinen Oberen. Die Interessen der Kirche im Heimgeschäft waren gefährdet. Als gar zwei kirchliche Heime ihre Pforten schließen mußten - der Pater hatte sie ausgetrocknet -, wurden der „Geso“ die Büroräume im Kloster gekündigt, und Pater Schink erhielt den Marschbefehl in ein Kloster nach Rom. Als der Pater blieb, wurde er wegen „fortgesetzen Ungehorsams“ aus dem Orden ausgeschlossen. Den Ausschluß hat sich der Pater redlich verdient. In zehn Jahren hat die „Geso“ 2300 Kinder in Familien vermittelt.
„Es gibt nichts zu reformieren im Heimwesen“, sagt Hans Dieter Schink, „dieses System kann man nur zerschlagen. Nach allen pädagogischen Erkenntnissen ist es widersinnig, ein Kind zu therapeutischen Zwecken in ein Heim zu geben. Und auf dieser großen Lüge basiert unser gesamtes Jugendhilfewesen.“
„Wenn jeder von uns zwei Kinder mit nach Hause nähme“, sagt eine Erzieherin aus dem Kölner Kinderheim, „dann wäre das Problem gelöst.“ Das Geld dazu wäre da. „Für das Geld, das ein Heimplatz kostet, könnte man neben jedes Kind einen Sozialarbeiter stellen, bezahlt nach BAT 4“, sagt Hans Dieter Schink.
Ein Platz im Kölner Heim kostet circa 4000 Mark im Monat. „wen ich mir das vorstelle! Was man mit dem Geld alles machen könnte. Da könnte man ein Haus mieten zu mehreren, einen Erzieher mitnehmen und dann einfach dort leben“, sagt Monika. Sie ist 14, die Beste in ihrer Klasse und will Abitur machen. Sie hat sieben Jahre in Heimen zugebracht, „meine halbe Zeit“. Monika schwankt zwischen Resignation und Zorn. „Dafür, daß wir Pech mit unseren Eltern gehabt haben, werden wir hier auch noch bestraft.“
Mein besonderer Dank gilt hütchen, die sich die Mühe gemacht hat, den ganzen Bericht abzutippen,Damit wir ihn lesen können.
Da der Bericht von 1980 ist ,wurde die alte Rechtschreibweise beibehalten.
gesamter Thread:
- Sternbericht von 1980 -
ewt,
15.04.2010, 15:13
- Sternbericht von 1980 -
ewt,
15.04.2010, 15:18
- Sternbericht von 1980 -
ewt,
15.04.2010, 15:21
- Sternbericht von 1980 -
bernd,
15.04.2010, 15:44
- Sternbericht von 1980 -
Klaus Grube,
15.04.2010, 16:15
- @ewt, bernd, klaus: Sternbericht von 1980 - hütchen, 15.04.2010, 17:17
- Sternbericht von 1980 -
Klaus Grube,
15.04.2010, 16:15
- Sternbericht von 1980 -
bernd,
15.04.2010, 17:45
- Ich bin dabei !!! - Inge, 16.04.2010, 08:57
- Sternbericht von 1980 -
bernd,
15.04.2010, 15:44
- Sternbericht von 1980 -
ewt,
15.04.2010, 15:21
- Sternbericht von 1980 -
ewt,
15.04.2010, 15:18