Sternbericht von 1980 (Presseberichte)

ewt @, Köln, Donnerstag, 15.04.2010, 15:18 (vor 5525 Tagen) @ ewt
bearbeitet von ewt, Mittwoch, 28.04.2010, 16:00

2 Teil vom Sternbericht 1980

Statt Pauls Papa kam eine Fürsorgerin, von der Schule alarmiert. Paul war dort „verhaltensauffällig“ geworden. Die Fürsorgerin konstatierte bei Paul einen „gestörten Sozialprozeß“ und „gravierende Verhaltensstörungen“. Sie erwirkte im Einvernehmen mit der Mutter, daß Paul „nach 5, 6 JWG“ ins Heim eingewiesen wurde.
Paul kam mit einer Reisetasche ins Heim. Seine Mutter begleitete ihn und war beim Aufnahmegespräch dabei. Dann ging die Mutter. Sie schloß die Tür des Aufnahmezimmers hinter sich und ging über den langen grün gestrichenen Flur an der Pförtnerloge vorbei nach draußen.

Der 13jährige Paul wurde einer der drei „Aufnahme- und Beobachtungsgruppen“ zugeteilt, die jeder Neuankömmling erst einmal durchläuft. Nachdem er die Reisetasche abgestellt hatte, begleitete ihn eine Erzieherin zur Untersuchung beim Heimarzt. Dann wurde Paul fotografiert, das Foto kam in seine Akte. Für die Polizei, falls er weglaufen sollte.

Pauls neue Familie bestand aus vier Erziehern, drei Frauen und einem Mann, die sich im Schichtdienst ablösten, und acht Kindern im Alter von 6 bis 14 Jahren. Die Erzieher waren nett zu Paul und halfen ihm nach Kräften, damit er sich in seiner neuen Situation zurechtfand.

Nach drei Monaten kam Paul in eine Dauergruppe. Da ist er jetzt seit sechs Wochen. Zwar möchte er „am liebsten wieder nach Hause“, aber „das klappt nicht mehr. Nee!“ So hat er sich hier eingerichtet. „Im Heim ist alles gut, alles!“ sagt Paul, “ich bin ja, ehrlich gesagt, viel lieber hier als zu Hause.“ Das ist natürlich, ehrlich gesagt, eine Lüge. „Mir gefällt's hier gut“, das kann man von jedem Kind hier hören – im gleichen Atemzug mit „Ich möchte nach Hause“.

Dieses Zuhause war für die meisten der Kinder hier mehr Hölle als trautes Heim. Hinter dem Wunsch nach dem Zuhause steht nur selten die Sehnsucht nach den häuslichen Verhältnissen. Der Wunsch nach dem „Zuhause“ umschreibt nur die Sehnsucht nach Geborgenheit, den Wunsch nach Beziehung statt Erziehung.

Ich klingle an der Tür zur „Gruppe Virnich“, so heißt die Gruppenleiterin. Ein kleines Mädchen macht mir auf. Als ich im Flur bin, stellt sich Marion vor mich und streckt mir stumm die ausgebreiteten Arme entgegen, wie in einem automatischen Reflex. Ich nehme sie – ebenso automatisch – auf den Arm. Sie legt die Arme um meinen Hals, schmiegt den Kopf an meine Schulter, steckt einen Daumen in den Mund. Mit Marion auf dem Arm gehe ich durch den langen Flur.

Aus einer Tür kommt ein Junge auf mich zugeschossen. „Wie heißt du? Was machst du hier? Wie lange bleibst du?“ Die Fragen kommen so schnell hintereinander, daß ich keine Zeit habe, dazwischen zu antworten. Frank nimmt mich am Jackenzipfel, wir gehen zu dritt ins Esszimmer. Die Erzieherin Eva räumt den Frühstückstisch ab. Als sie auf mich zukommt, um mich zu begrüßen, löst Marion die Arme von mir und streckt sie Eva entgegen. Frank greift sich sofort einen meiner freien Arme. „Komm mit, ich zeig dir mein Zimmer.“ Er zeigt mir seine Stofftiere, sein Feuerwehrauto, seine Plastikfiguren. Er schenkt mir ein selbstgemaltes Bild. Als ich ihm eine Hand auf die Schulter lege, brechen alle Dämme. Frank wirft die Arme um mich, schmiegt seinen Kopf an meine Seite und sagt zärtlich: „Ich hab dich lieb.“ Ein Junge kommt ins Zimmer gerannt, stürzt sich auf mich und boxt mich. „Laß meinen Papa in Ruhe, Michael!“, sagt Frank zu ihm. Michael boxt Frank. Ich lege einen Arm um Michael, er hört sofort auf zu knuffen und hängt sich an mich. Zu dritt gehen wir über den Flur in Michaels Zimmer.

Nach einer Viertelstunde liege ich auf einem Bett, von vier wildfremden Kindern umklammert: Frank, 8, Michael, 10, Horst, 13, Brigitte, 13. Alle sagen inzwischen Papa zu mir. „Das ist m e i n Papa!“ Frank küßt mich und flüstert mir ins Ohr: „Du bist mein kleiner Schatz. Du gehörst mir.“

Jedes deutsche Kind hat zwar ein „Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit“ doch von der Grundvoraussetzung dafür, von dem elementaren kindlichen Bedürfnis nach einer stabilen Beziehung, die ihm Sicherheit und Geborgenheit gibt, ist im Gesetz keine Rede. Jedes Kind braucht einen „Papa“, irgendeinen Erwachsenen zumindest, der ihm sicher ist. Ich kann Frank’s „Papa“ nicht machen, und die Erzieher hier können’s wohl auch nicht. Wie ruhelose Eichhörnchen auf Futtersuche wirken die Kinder. Die Jagd nach Liebe wird zur tag- und abendfüllenden Beschäftigung.

„Nichts ist selbstverständlich im Heim, außer der Versorgung“, sagt Manfred, ein Altgedienter. Er ist als Säugling hier ins Heim gekommen. Jetzt ist er 19 und steht vor dem Abitur, auch heute noch eine außergewöhnliche Karriere für ein Heimkind. „Ich hab’s halt irgendwie überstanden“, meint er, „aber dafür habe ich auch meinen Preis bezahlt. Das, was du am Nötigsten brauchst und was die draußen ganz selbstverständlich geschenkt kriegen, das bekommst du hier nur als Belohnung oder dafür, daß du lieb und süß bist.“

Manfred hatte Glück, er war „ein süßer Junge, als ich klein war“. Als er aus dem süßen Alter raus war, begann das, was er den „Grabenkampf um die Streicheleinheiten“ nennt. „Da mußt du clever sein und alle Mittel einsetzen, legitime und illegitime: was Nettes machen, brav sein, Leistung bringen, andere bei den Erziehern anschwärzen, dafür gibt’s Streichellohn. Du mußt stark sein. Zeig keinem deine Schwäche! Weine nie vor anderen! Wenn du weinst, wirst du nur ausgelacht von den anderen, und die Erzieher sind das weinen gewohnt.“

Es gibt noch eine andere Möglichkeit, das Nötigste zu kriegen, „aber das ist ein gefährlicher Weg“, sagt Manfred. „Werde zum Problemkind! Hau um dich, mach alles! Da kommt dann der freundliche Heimpsychologe und nimmt dich an die Hand. Da kriegst du schon mal Zuwendung von dem. Dann sagt der den Erziehern, was mit dir los ist, und die kümmern sich dann auch eine Weile um dich. Wenn du allerdings Pech hast, oder wenn du das Spiel übertreibst, dann gibt’s überhaupt keine Zuwendung mehr, dann lassen sie dich links liegen, schreiben dich ab. Da bist du dann praktisch gestorben.“

Nach seiner Schätzung hat Manfred so an die 60 Erzieher gehabt im Laufe der Jahre. „Und jedesmal der gleiche Kampf.“ Die Fluktuation unter Heimerzieher ist enorm. Es gibt Heime, wo im Laufe eines Jahres die komplette Erzieherriege wechselt. Im Städtischen Kinderheim Köln beträgt sie 30 Prozent. „Eigentlich müßte jeder aus der Heimerziehung nach fünf Jahren raus. Dann ist er geschafft“, sagt Heimleiter da Costa Gomez.

Die Erzieher sind nicht schuld an der Misere, sehen sich selbst als „Opfer dieser künstlichen Situation“, wie eine Erzieherin sagt. „Die Kinder wissen ganz genau, daß wir nur hier sind, weil das unser Beruf ist, daß wir genauso wenig freiwillig hier sind wie sie selbst. Manchmal, wenn ich am Wochenende Dienst habe und zum Fenster rausschaue auf die Straße, wo die Autos rumflitzen, dann denk ich: Im Grunde wirst du hier mitbestraft.“

Die moderne „Heimfamilie“ ist ein Etikettenschwindel, eine mit wissenschaftlichem Anspruch verbrämte Augenwischerei. „In der Person des Heimerziehers schneiden sich gesellschaftliche und persönliche, sachliche und menschliche, administrative und kommunikative Belange in einzigartiger Weise. Dennoch ist der Heimerzieher nicht einfach nur dieser Schnittpunkt, sondern eine zugleich agierende und reagierende, planende und ausführende, selbstbestimmende und fremdbestimmte Figur in einer besonderen Position“, heißt es in einer „Einführung in Theorie und Praxis der Heimerziehung“. Wie eine solche Position auszufüllen sei, steht ohne Ironie auch in dem Buch: „Vom Erzieher wird übernatürliches erwartet-„ Wenn er das nicht bringt, so ist das sein Fehler.

Man kann ein schlechter Erzieher sein oder ein guter – für die Betroffenen kommt es auf das Gleiche raus. „Wenn man sie braucht, sind sie nicht da“, sagen die Kinder. Ein Erzieher ist nie „da“, so wie Eltern“ da“ sind, auch wenn sie mal nicht da sind. Nicht das Fehlen von Blutsbanden, sondern das Heimsystem macht eine echte Bindung Erzieher/Kind unmöglich.

Die moderne „Heimfamilie“ ist ein kläglicher Abklatsch Marke trautes Heim, eine Familienhülle ohne Kern. Da diese „Familie“ für den Erzieher nur eine Arbeitsbeziehung auf Zeit sein kann, sind die Kinder ständig vom Verlust der „Eltern“ bedroht. „Das Verlassenwerden, das die Kinder in der schlimmsten Weise erlebt hatten, als sie von ihren Eltern fort mußten, das bekommen sie jetzt hier institutionalisiert vorgeführt“, sagt da Costa Gomez. Ganz abgesehen davon, daß Erzieher kündigen oder Kinder verlegt werden: Die Erzieher gehen abends nach Hause, in ihr echtes Zuhause, zu Frau und Kind womöglich, und zeigen schon dadurch den Kindern, wie es um die „Heimfamilie“ bestellt ist.

Ohne festen Boden unter den Füßen kann für die Kinder schon ein alltägliches Erlebnis zur Katastrophe werden – wenn ein anders Kind bevorzugt wird, wenn es selbst mal nicht beachtet wird. Dann gerät alles ins Wanken: Er mag mich nicht mehr! Ich muß was tun, auf mich aufmerksam machen, lieb sein, was kaputtmachen, jemand verhauen, irgendetwas tun – panische Reaktion, die im pädagogischen Sprachgebrauch dann als „Verhaltensstörungen“ einsortiert werden. Die „Störungen“ werden dann behandelt, der Psychologe wird eingeschaltet, wenn es zu schlimm, das Kind zu „schwierig“ wir. Das Kind bekommt Aufmerksamkeit, „Zuwendung“ – das, was es braucht und sucht, bekommt es nicht. Und so geht das Spiel weiter, die Jagd nach einer Fata Morgana, an deren Ende dann oft die Psychiatrie oder die geschlossene Erziehungsanstalt steht.

„Man könnte sagen, daß wir schon sehr große Fortschritte gemacht haben“, sagt da Costa Gomes, „Fortschritte in der Möglichkeit, Kinder zu vernichten.“

Rolando da Costa Gomez ist nicht gerade ein typischer Heimleiter, der salbungsvolle Ton berufsmäßiger Kinderfreunde fehlt ihm. Er sagt auch nicht, daß die Kinder in seinem Heim „gut aufgehoben“ sind. Das Heim, so wie er es sieht, „soll und darf nur ein Zwischenstück zu einer Kette von Hilfsmaßnahmen sein, eine Notunterkunft, aber kein Dauerverbleib, ich habe auch al an die Heimfamilie geglaubt. An das hier“. Er gibt mir eine Broschüre, eine Festschrift des Heims aus dem Jahre 1967.

„Schauen sie sich das an“, sagt er und deutet auf ein Foto. Auf dem Bild ist ein etwa 18jähriger Junge zu sehen, der im Kreise von zehn süßen Kleinkindern Gitarre spielt. „Der große Bruder singt mit den Kleinen“, steht darunter. „Das war nicht der Bruder, sagt da Costa Gomez, „der hatte auch keine Lust zu singen. Und auch keine Lust Bruder zu sein. Alles Betrug.“

Mit Heimkindern, Kindern in öffentlicher Hand, kann man fast alles treiben. Nur zu gerne läßt sich die Öffentlichkeit hinters Licht führen. Ein Druck auf die Tränendrüse, ein Hauch Kindersüßigkeit, ein bißchen Wohltätigkeit – und jede Lüge wird geglaubt.

Teil 3 des Berichtes in Antwort von "ewt"


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