Heimerziehung, Verwahrlosung, Hirnstatus (SZ) (Presseberichte)

bleakhouse, Dienstag, 24.07.2012, 07:00 (vor 4505 Tagen)
bearbeitet von Klaus Grube, Dienstag, 24.07.2012, 08:00

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Süddeutsche Zeitung, 24. Juli 2012

Das Leid, das bleibt

Kinder, die seelisch und körperlich vernachlässigt werden, haben ihr Leben lang mit den Folgen zu kämpfen. Psychische Störungen sind häufiger, aber auch die Infektanfälligkeit steigt und die Hirnentwicklung ist beeinträchtigt

Von Werner Bartens

Manche Wunden bleiben ein Leben lang. Auch wenn sie äußerlich verheilen, bestehen die Verletzungen weiter. Besonders langfristige Beeinträchtigungen erleiden Kinder, die früh und über einen langen Zeitraum körperlich wie seelisch vernachlässigt werden und in wichtigen Entwicklungsphasen zu wenig Zuwendung bekommen. Kinderärzte der Harvard University zeigen im Fachblatt Proceedings of the National Academy of Science (online) vom heutigen Dienstag, dass bei vernachlässigten Kindern sogar das Gehirnwachstum eingeschränkt ist.

'Schlechte und erst recht feindliche Erfahrungen in der Kindheit haben negative Auswirkungen auf die Hirnentwicklung', sagt Margaret Sheridan, die Hauptautorin der Studie. 'Das gilt nicht nur für Kinder, die in Heimen untergebracht sind, sondern für alle Kinder, die Missbrauch, Verwahrlosung, Gewalt in Kriegen, extremer Armut oder anderen gravierenden Nachteilen ausgesetzt sind.' Die Forscher hatten mehrere Gruppen Acht- bis Elfjähriger untersucht. Ein Teil der Kinder wurde in einem Heim betreut, ein anderer wuchs in der eigenen Familie auf. Eine dritte Gruppe Kinder lebte zunächst im Heim, wurde dann aber seit mindestens sechs Jahren von einer Pflegefamilie großgezogen.

In Kernspinaufnahmen des Gehirns zeigte sich, dass die Kinder aus Heimen deutlich weniger graue Substanz aufwiesen als jene, die immer in ihrer Familie lebten. Dieser Unterschied blieb bestehen, auch wenn die Kinder aus den Heimen in eine fürsorgliche Pflegefamilie gewechselt waren und dort bereits seit mehreren Jahren lebten. Auch das Volumen der weißen Substanz war bei den Heimkindern gegenüber den zu Hause lebenden Gleichaltrigen vermindert. Hier zeigte sich jedoch, dass die Kinder, die in Pflegefamilien kamen, in der Hirnentwicklung - zumindest rein mengenmäßig - aufholten und ähnlich viel weiße Substanz aufwiesen wie die Kinder, die schon immer in ihrer eigenen Familie gelebt hatten.

Die graue Substanz differenziert sich während besonders empfindlicher Phasen der Entwicklung aus - dann, wenn Umwelteinflüsse das Gehirn stark prägen. Vereinfacht gesagt wird sie nicht nur mit der Muskelkontrolle und der taktilen Wahrnehmung in Verbindung gebracht, sondern auch mit Gefühlsverarbeitung, Gedächtnis, Sprache und Sinneseindrücken wie Sehen und Hören. Die weiße Substanz bildet das Netzwerk der Informationsverarbeitung und knüpft ständig neue Verbindungen. Sie wächst langsamer und kann deshalb flexibler auf Veränderungen reagieren und sich anpassen. 'Offenbar kann die weiße Substanz einen Rückstand einigermaßen aufholen', sagt Margaret Sheridan.

Das könnte erklären, warum Kinder, die aus dem Heim in eine Pflegefamilie kommen, nach einigen Jahren nahezu über die gleiche Menge dieser Nervenbahnen verfügen wie Kinder, die nie in einem Heim gelebt haben. 'Unsere Studien legen den Schluss nahe, dass es innerhalb der ersten beiden Lebensjahre einen Zeitraum gibt, in dem sich die Übernahme in eine Pflegefamilie besonders positiv auf die kognitive Entwicklung auswirkt', sagt Charles Nelson, der Leiter der Arbeitsgruppe aus Boston. 'Je früher das Kind aus dem Heim in eine solche Familie kommt, desto besser das langfristige Ergebnis.'

Die Studie wurde mit Hilfe von Ärzten in Bukarest durchgeführt, wo der frühere Diktator Nikolae Ceausescu seit 1960 systematisch Kinderheime errichten ließ, in denen beim Sturz seines Regimes 1989 noch mehr als 170000 Kinder leben mussten. Die Situation in Rumänien hat sich zwar verbessert, doch weltweit leben nach Schätzungen des Kinderhilfswerks Unicef acht Millionen Kinder in Heimen, die meisten seelisch wie körperlich vernachlässigt. Ihre sozialen und sprachlichen Fähigkeiten sind verkümmert, Verhaltensauffälligkeiten häufig. Zunehmend erkennen Forscher auch die körperlichen Folgen der frühkindlichen Entbehrungen.

In vielen Waisenhäusern, die Mitte des 20. Jahrhunderts nach modernsten Standards entworfen wurden, hatten die Pflegerinnen auch in demokratischen Staaten bis in die 1960er-Jahre die Anweisung, Kinder nicht zu berühren und nicht mit ihnen zu spielen - aus Furcht vor Ansteckung.

Obwohl die Waisen ansonsten bestens versorgt wurden, starben vierzig Prozent der Kinder, als ihre Einrichtung von den Röteln heimgesucht wurde. Außerhalb des Waisenhauses erlagen dieser normalerweise harmlosen Infektionskrankheit damals weniger als ein Prozent der Kinder.

Ähnliche Ergebnisse zeigten sich in den Waisenhäusern Rumäniens direkt nach Ende der kommunistischen Diktatur. Die Kinder wurden teilweise an ihre Betten gefesselt und wie Tiere gehalten. Sie bekamen kaum emotionale Zuwendung - viele von ihnen starben. Kinderärzte und Psychologen haben gezeigt, dass Stress in der frühen Kindheit dauerhaft das Immunsystem und damit die Abwehr gegen feindliche Erreger schwächen kann. 'Die frühe emotionale Umgebung wirkt sich noch sehr lange auf die Gesundheit aus', sagt Seth Pollak von der University of Wisconsin in Madison. Sein Team hat Jugendliche untersucht - die Hälfte verbrachte eine glückliche Kindheit ohne Traumatisierung und ihr Immunsystem war intakt. Jene Jugendlichen, die körperlich missbraucht worden waren und daher in emotional instabilen Verhältnissen aufwuchsen, konnten sich hingegen nicht gut gegen Viren, Bakterien und andere Eindringlinge wehren und beispielsweise Herpes-Viren nicht in Schach halten. Auch andere Abwehrmechanismen waren geschwächt. 'Bei der Geburt ist unser Immunsystem noch nicht vollständig ausgeprägt', sagt Christopher Coe von der University of Wisconsin. 'Die Zellen sind zwar vorhanden, aber wie sie sich entwickeln und reguliert werden, ist davon abhängig, wie man aufwächst.'

Ein weiteres Ergebnis überraschte die Forscher. Sie untersuchten auch die Immunreaktion einer dritten Gruppe Jugendlicher. Diese Probanden hatten ihre früheste Kindheit in Waisenhäusern in Rumänien zugebracht, lebten aber längst in stabilen Verhältnissen mit Adoptivfamilien. Das Abwehrsystem dieser Probanden war ähnlich geschwächt wie das der Jugendlichen, die körperlich missbraucht worden waren. 'Diese Kinder hatten zwar eine schwierige Kindheit, aber seit mehr als einem Jahrzehnt erleben sie emotionale Sicherheit', sagt Pollak. 'Trotzdem steht ihr Körper dermaßen unter Stress, als ob sie missbraucht worden wären.'

Bindungsforscher wissen, dass frühkindlicher Missbrauch und emotionale Verwahrlosung zu mehr psychischen Leiden führen. Jetzt werden nach und nach auch die körperlichen Spätfolgen deutlich.

'Eine unsichere Bindungsentwicklung ist ein großer Risikofaktor', sagt Karl Heinz Brisch, Psychosomatik-Experte für Kinder an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Danke für den Artikel. Bitte achtet darauf, das Eure Nachricht in die passende Kategorie gessetzt wird! Danke. Nachricht in Kategorie Presse verschoben. Mod Klaus


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