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Karin Gier, Montag, 23.08.2010, 20:47 (vor 5207 Tagen)

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Traumatisierte Heimkinder! (Quelle:
http://www.top-medien-berlin.de/content/view/841/2/ )

18.Juli 2010: Daß Mißhandlungen von Kindern zu Traumatisierungen führen
können, deren Folgen erst in späterer Zeit sicht- und spürbar werden, dürfte
inzwischen zum allgemeinen Bildungsgut gehören. Häufig wurde und wird die
Mißhandlung von Kindern im Zusammenhang mit sexuellem Mißbrauch untersucht.
Dabei können die Ursachen von sexuellem Mißbrauch und Mißhandlungen
vielfältig sein, sie können sich ergänzen, aber auch aus identischem Antrieb
geschehen. "Der Begriff der Kindesmisshandlung", so stellt Wiebke Jaenecke
in ihrer Dissertation "Sexueller Mißbrauch und körperliche Mißhandlung in
der Kindheit: Einfluß des Schweregrades und gemeinsamen Auftretens beider
Mißhandlungsformen auf spätere Folgen" (2001), Seite 10, heraus, "beinhaltet
mehrere Unterformen. Dazu zählen: Körperliche Vernachläßigung / Mißhandlung,
psychische Vernachläßigung / Mißhandlung, emotionale Vernachläßigung /
Mißhandlung sowie sexueller Mißbrauch. Ganz allgemein definiert ENGFER
(1993, S.617) Kindesmißhandlung als gewaltsame physische oder psychische
Beeinträchtigung von Kindern durch Eltern oder Erziehungsberechtigte."

Daß das Heim für Säuglinge und Kleinkinder per se eine Beeinträchtigung der
kindlichen Seele ist, weil sie die Mutter-Kind-Beziehung unterbindet bzw.
stark einschränkt, ist seit den Forschungen von Meinhard von Pfaundler
(1872-1947) und René Spitz (1887-1974) anerkannt. Aber es sind nicht nur
die emotionalen Mangelerscheinungen im Säuglings- und Kleinkindalter, die
zur Beeinträchtigung des Lebensglücks führen, sondern auch Mißhandlungen
und sexueller Mißbrauch in den späteren Kinderjahren. Bei der Erfassung von
Mißbrauchs- und Mißhandlungsfällen zeigt sich, worauf Wiebke Jaenecke
aufmerksam macht, daß es hier einen engen Begriff gibt, der vor allem im
Strafrecht von Bedeutung ist, und einen weiten Begriff, an den sich die
Sozialwissenschaft gebunden fühlt. Dieser weite Begriff liegt auch der
psychologischen Expertise "Was hilft ehemaligen Heimkindern bei der
Bewältigung ihrer komplexen Traumatisierung?" zugrunde. Sie wurde dem Runden
Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren von Silke Birgitta
Gahleitner vorgelegt. Auf 61 Seiten wird eine Situationsanalyse gegeben und
Vorschläge unterbreitet, wie traumatisierten ehemaligen Heimkindern zu
helfen ist. Interessant und aufschlußreich ist, daß Gahleitner den Zeitraum
bis auf die 40er Jahre zurück ausgedehnt hat. Offenbar gibt es dafür aus
psychologischer Sicht Gründe, sei es, daß identische Folgen, sei es, daß
identische Ursachen vorliegen. Die Autorin hebt hierzu hervor (Seite 5):
"Die von Missachtung und Gewalt geprägte Behandlung der Kinder in Heimen
sowie die Bilder von Kindern und Jugendlichen, die der 'Unterbringung' in
Heimen zugrunde lagen, sind in einen größeren historischen Kontext zu
setzen, der bis in die NS-Zeit und bis weit davor und danach reicht." Dieser
Auffassung ist zuzustimmen. Sie kann sogar noch konkretisiert werden, denn
die Tradierung der genannten Bilder und Methoden ist vor allem in der
Identität der Heimträger begründet.


Zunächst geht es in dem genannten Gutachten um eine Begriffsklärung. Das
Trauma entsteht in einer extrem bedrohlichen Situation, der man hilflos und
ohnmächtig ausgesetzt ist. Man kann sich ihr nicht entziehen, auch nicht
durch Widerstand eine Änderung dieser Situation herbeiführen. So führt denn
Gahleitner (Seite 6) aus: "Unter einem Trauma versteht man ein 'vitales
Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und
individuellen Bewältigungsmöglichkeiten' (Fischer & Riedesser, 1998, S. 79),
das den Rahmen der Belastungsfähigkeit um ein Vielfaches übersteigt, wie z.
B. eigene oder unmittelbar beobachtete Todesnähe oder eine ernsthafte
Verletzung der körperlichen Unversehrtheit. Wer dies erlebt, ist der
Erfahrung von ohnmächtigem Kontrollverlust, Entsetzen und (Todes-)Angst
ausgesetzt. Die natürlichen menschlichen Selbstschutzstrategien angesichts
von Lebensgefahr - Flucht und Widerstand - erweisen sich als sinnlos."

Die Intensität der Traumatisierung ist abhängig von Dauer, Wiederholung, Art
und Umstände, Alter des Opfers sowie vorhandenen oder fehlenden
Schutzfaktoren. Als besonders gravierend stellen sich frühe
Traumatisierungen durch Fürsorgepersonen dar: Verlusterfahrungen, physische
Gewalt, sexuelle Gewalt. Weniger von der Öffentlichkeit als Gewalt
wahrgenommen werden Traumatisierungen durch (Seite 7) "Erniedrigung,
feindselige Ablehnung, Missbräuchlichkeit, psychisches Terrorisieren, jedoch
auch der Entzug verlässlicher Zuwendung und gegenseitiger Anerkennung -
insbesondere innerhalb einer Fürsorgebeziehung - [...] Auch Vernachlässigung
als eine andauernde oder wiederholte Unterlassung fürsorglichen Handelns,
das zur Sicherstellung der physischen und psychischen Versorgung notwendig
wäre (Schone et. al., 1997), [...]." Nicht nur die Öffentlichkeit, sondern
auch die Opfer selbst tun sich schwer, Traumatisierungen zu erfassen und zu
beschreiben. Teils mag das daran liegen, daß die entsprechenden Einwirkungen
sich der Erinnerung entziehen, teils aber auch daran, daß den Opfern und
ehemaligen Heimkindern zur Beschreibung ihrer Erfahrungen meist nur Begriffe
aus der Rechtssphäre zur Verfügung stehen. Bei der Objektivierung von
Handlungen mögen sie durchaus selbst bemerken, wie ungenügend das, worum es
eigentlich geht, zu erfassen ist, zumal dann, wenn sie mit ihrem Anliegen
nicht verstanden werden oder gar auf Ablehnung stoßen. Die geschieht nicht
nur im Verhältnis von Heim- und Nichtheimkindern, sondern gar nicht so
selten auch bei Heimkindern untereinander.

Eine wichtige Erkenntnis der Traumaforschung ist, daß es im Laufe des Lebens
immer wieder zu Rückblenden kommen kann, wobei ursprüngliche positive und
kreative Bewältigungsstrategien sich umkehren können, destruktiv werden und
chronische Symptome hervorrufen. Dieses Phänomen faßt man heute unter dem
Begriff der "komplexen Traumatisierung".

Die vielfältige Symptomatik der "komplexen Traumatisierung" gilt als
psychische Störung und wird als "Posttraumatische Belastungsstörung"
bezeichnet. Wichtig ist dabei die Einsicht, daß die traumatischen Erlebnisse
der Kindheit in der weiteren Biographie aktualisiert und die alten
Beziehungsmuster unbewußt zu neuen Situationen und Erfahrungen in Beziehung
gesetzt werden und damit auf das psycho-soziale Beziehungsgeflecht
unmittelbar einwirken. So hebt Gahleitner (Seite 12) hervor: "Jede
Entwicklungsstufe stellt das traumatisierte Kind vor neue Anforderungen. Die
Traumafolgen führen daher nicht nur zu unmittelbaren psychischen Störungen
und Problematiken, sondern auch zu bio-psycho-sozialen Veränderungen, die
als Basis für zukünftige individuelle und interpersonelle Verhaltensmuster
und Bewältigungsmechanismen sämtliche Lern- und Erfahrungsprozesse
beeinflussen (Finkelhor & Kendall-Tackett, 1999; Röper & Noam, 1999)."

Auf die Mutter-Kind-Beziehung als entscheidender Faktor für eine gesunde
psychische Entwicklung haben, wie oben bereit genannt, Meinhard von
Pfaundler (1872-1947) und René Spitz (1887-1974) aufmerksam gemacht.
Gahleitner führt John Bowlby (1907-1990) an, der die Bindungsneigung von
Kindern erforscht und (Seite 12) erkannt hat, "dass diese frühen Bindungen
Kindern als sichere Basis und Grundstruktur für die gesamte weitere
Entwicklung dienen (vgl. auch Brisch, 1999)." Daraus wird die Folgerung
gezogen, daß (Seite 12) "Fürsorgepersonen die Signale des Kindes richtig
wahrnehmen, interpretieren sowie prompt und angemessen beantworten" müssen.
Doch gilt hier auch, daß (Seite 13) "In vielen Fällen früher und anhaltender
Traumatisierung [...] der unbelastete Zugang zu diesen existenziellen
Grundbedürfnissen gerade durch jene Menschen zerstört [wird], von denen das
Kind am stärksten abhängig ist und von denen es Liebe und Vertrauen
benötigt." Für das Verständnis von Heimkindern scheinen sodann die folgenden
Bemerkungen wichtig zu sein. "Im Gegensatz zur Entstehung einer 'sicheren
Bindungsbasis' in den ersten Lebensjahren erleben diese Kinder ohne einen
'sicheren Hafen' eine bedrohliche Double-Bind-Situation: einerseits das
existenzielle Bedürfnis, sich der Bezugsperson zu nähern, andererseits das
Erleben, dort nicht sicher oder gar bedroht zu sein. Dies hinterlässt beim
Kind einen unlösbaren Bindungskonflikt (Brisch, 2003). Fatalerweise führt
dies jedoch zu einer noch verzweifelteren Suche nach Bindung - ein
Teufelskreis, der impliziert, dass solche Kinder häufig eine starke, aber
äußerst maligne [schädliche] Bindung entwickeln, insbesondere wenn die
jeweiligen Fürsorgepersonen selbst zu den Peinigern zählen (Grossmann &
Grossmann, 2004)." Der letzte Gedanke wird wenig später leicht variiert
wiederholt und ausgeführt: "Für misshandelte Kinder besteht dagegen
dauernder 'Feueralarm' (Grossmann, 2002), der sich auch physiologisch
niederschlägt. Anstelle einer frühen positiven Bindungserfahrung, die
zentrale Orientierungspunkte schafft, ist das im sozialen Nahraum
traumatisierte Kind seinen Bezugspersonen völlig hilflos ausgesetzt und
sucht häufig sogar aktiv nach weiterem Kontakt mit ihnen. Dies kann zur
Ausbildung eines 'desorganisierten Bindungsmusters' oder einer manifesten
Bindungsstörung führen, häufig ein Vorläufer von Persönlichkeitsstörungen
(Brisch, 1999; Crittenden, 1995; Main & Hesse, 1990)."

Gahleitner hebt aber nicht nur die Beziehung zwischen Kind und
Bezugspersonen hervor, sondern weist auch auf die gesellschaftliche
Verantwortung für die Bewältigung von Traumatisierungen hin. (Seite 14):
"Neben dem Versagen von Einzelpersonen spielt hier der Einfluss der
umgebenden Gesamtgesellschaft eine entscheidende Rolle. Auf beiden Ebenen
ist wesentlich, ob dem Opfer angemessene Wertschätzung und Unterstützung
entgegenkommt. 'Erst ... wenn Betroffene glaubhaft erfahren,... dass sie das
Recht haben und ... darin unterstützt werden sich zur Wehr zu setzen und
sich Hilfe zu holen, können sie sich vorstellen, dass es wirklich Auswege
gibt.' (Roth, 1997, S. 102) Nur auf diesem Wege kann der erschütterte
Glauben an eine vertrauenswürdige Welt wieder gefestigt werden
(Janoff-Bulman, 1985). Allerdings ist die Gesellschaft [...] häufig nicht in
der Lage, der sozialen Verantwortung, die sie für traumatisierte Opfer
trägt, gerecht zu werden (Herman, 1993). Viele Betroffene denken aufgrund
ihrer Isolation daher, sie seien mit ihrer Erfahrung alleine. Nähe und
Vertrauen bergen für sie daher häufig Gefahr statt Schutz und
Entwicklungspotenzial."

Daran anschließend setzt sich Gahleitner mit den Erfahrungen auseinander,
von denen ehemalige Heimkinder berichten. Die Quellen sind inzwischen so
zahlreich, daß an der systematischen Anwendung physischer und psychischer
Gewalt in den Heimen kein Zweifel mehr besteht. Bei der Frage der
Traumatisierung wendet Gahleitner gegen die Auffassung, daß viele Kinder
ihre Traumatisierungen bereits aus den Familien in die Heime mitgebracht
hätten, ein, daß (Seite 17) "Die Erfahrungen, die in miserablen Zuständen
von Säuglingsheimen bereits kleinste Kinder gemacht haben, [...] sich
keinesfalls auf vorherige bereits chronifizierte Störungsbilder der
damaligen Kinder zurückführen [lassen] (vgl. Burschel, 2008). Aber selbst
wenn bereits bei Heimeinweisung eine Schädigung vorlag, kann aus
wissenschaftlicher Sicht verzeichnet werden, dass traumatisches Geschehen
alleine noch nicht das Ausmaß der Entwicklung einer PTSD
[Post-Traumatik-Stress-Disorder] bedingt. Das Ausmaß eines posttraumatischen
Krankheitsverlaufs im weiteren Lebensverlauf ist auch abhängig von
vorhandenen oder nicht vorhandenen schützenden Faktoren und Umfeldressourcen
(siehe oben, Kapitel 1.1, 1.2 und 1.3; vgl. abermals Keilson, 1979; Khan,
1963). Auch damals waren Heimeinrichtungen gesetzlich verpflichtet, das Wohl
ihrer Anvertrauten zu verbessern, nicht jedoch durch die bereits mehrfach
genannten Zustände zu verschlechtern und eventuelle Vorbelastungen zu
chronifizieren."

Vor diesem Hintergrund entfaltet Gahleitner dann die Theorien zum Trauma und
Gedanken zur Bewältigung komplexer Traumata im allgemeinen und Vorschläge
zur psychosozialen Versorgung ehemaliger Heimkindern aus den 40er-
bis70er-Jahren im besonderen. Fast die Hälfte der Expertise ist diesen
Themen gewidmet. Zum Abschluss hebt sie hervor: (Seite 50): "In Überlegungen
zu einem angemessenen Umgang mit den Verletzungen, die ehemalige Heimkinder
aus den 40er- bis 70er-Jahren von institutioneller Seite erfahren haben,
geht es nicht allein um individuelle finanzielle Entschädigungsleistungen
und auch nicht allein um Entschuldigungen der verantwortlichen
Institutionen. 'Viele Betroffene benötigen heute noch ganz konkrete Hilfe
bei der Bewältigung ihrer Gegenwart und Zukunft. Das gilt gerade auch für
die dringend notwendige Versorgung in den Fällen der Traumatisierung. Hier
sind menschliche Zuwendung, gezielte therapeutische Hilfe und deren
ausreichende Finanzierung unerlässlich. [...].'" Dem ist nichts
hinzuzufügen.


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