Sternbericht von 1980 (Presseberichte)

ewt @, Köln, Donnerstag, 15.04.2010, 15:13 (vor 5525 Tagen)

Orginalabschrift vom Sternbricht 1980.
Zuhause im Heim (*die Namen aller Kinder sind von der Redakltion geändert)

Jedes Kind hat ein Recht auf „Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit“, so steht es im Jugendwohlfahrtsgesetz. Stern-Autor Rainer Joedecke hat diese Erziehung im städtischen Kinderheim Köln beobachtet und fotografiert. Einem Heim, das als vorbildlich gilt.

Zwei Jungen sitzen nach der Schule auf den Betten in ihrem Zimmer. Im Kölner Kinderheim kümmern sich 120 Erzieher, Sozialarbeiter und Psychologen um 225 Kinder. Eine optimale Ausstattung, sagen die Behörden. „Aber einen, der für dich da ist, gibt es nicht“, sagen die Kinder.

Jedes Kind hat seine Akte. Darin sind Lebenslauf, ärztliche Untersuchungsergebnisse, psychologische Gutachten, Notizen der Erzieher („Robert zeigt schwere Verhaltensstörungen“, „Der Junge ist nicht familienfähig“). Und Fotos der Heimkinder – für die Polizei, falls eins ausreißt.

Drei Jungen toben im Treppenhaus des städtischen Kinderheims Köln. Draußen gibt es kein Kind gern zu, dass es in dem kasernenähnlichen Haus lebt. „Wenn jemand erfährt, daß du aus dem Heim kommst, fällt sofort die Klappe, dann bist du unten durch“

„Hier gefällt's mir sehr gut“, sagt *Robert. „Man hat hier sehr viel Auslauf, man darf raus, wann man will, es gibt 27 Mark Taschengeld, man kann mal in die Stadt fahren.“ Mit dem Essen ist Robert auch zufrieden. „Sehr reichlich hier! Meistens ist Fleisch dabei, jede Woche gibt’s einmal Eis.“

Robert ist zwölf Jahre alt. Am 18. Februar 1982, „Karneval Donnerstag nachmittags“, erinnert sich Robert, wurde er hier eingeliefert.
„Meistens klappt es ohne weinen“, sagt eine Erzieherin. „Nur die Kleinen, die weinen schon mal, wenn sei hier ankommen. Denen helfen dann die anderen Kinder aus der Gruppe, daß die da drüber weg kommen.“

Robert hat nicht geweint, als er hier ankam. Dies ist bereits sein drittes Heim. Er sieht die Sache so: “Für Kinder, die keine Eltern haben oder die die Eltern nicht haben wollen, ist das Heim sehr gut. Das ist besser, als wenn man nur auf der Straße ausgesetzt und einfach da liegengelassen wird.“

Robert hat ein Bett und einen Schrank. Im Schrank hat er seine Kleidung und seine persönliche Habe: vier Gruselbücher, ein Stapel Mickymaushefte, eine Zigarrenkiste mit Fußballbildern, eine Taschenlampe und ein vertrocknetes Lebkuchenherz. Einen Packen Tätowier-Abziehbilder hat er unterm Kopfkissen versteckt. „Da sind alle scharf drauf, die versteck ich lieber hier. Abschließen kann man hier ja nichts.“

Auf seinem Bett liegt ein großer gelber Teddy. Den hat er aus dem Spendenkeller. Die bunte Porzellanmaske über dem Bett und eine kleine Bastmatte mit einem aufgestickten Vogel hat er sich auch dort geholt. „Das find ich gut hier, den Keller“, sagt Robert, „da kann man sich alles Mögliche aussuche, was die Leute da draußen für uns gespendet haben.“

Robert möchte gerne hierbleiben. „Ich glaube allerdings, daß ich nicht bleiben kann. Ich habe gehört, daß ich wahrscheinlich nach Hoffnungsthal komme. Ich weiß nicht, wies da ist, wie die Erzieher sind. Aber solange ich weiß, daß ich gut gepflegt bin und nicht draußen schlafen muß, wie wenn ich wieder abhauen würde …“

Robert machte einen ruhigen und überlegten Eindruck. Ein leichtes Bröckeln in der Stimme manchmal, ein Seitenblick, doch Robert hat das schnell wieder unter Kontrolle. Probleme hat er keine, sagt er. „Und wenn, dann könnte ich runtergehn zu Frau Unuane - das ist meine Vorgesetzte sozusagen.“

Robert hat eine Akte, wie alle Kinder hier. Da steht alles drin über Robert, wo er schon überall war, wie oft er abgehauen ist. „Robert zeigt schwere Verhaltensstörrungen“, steht da unter anderem. Und seine Erzieher sagen: „Der Junge ist kaputt, ein sehr schwieriges Kind.“

Manchmal dreht der ruhige Robert nämlich durch oder zertrümmert einen Stuhl oder eine Scheibe. „Das passiert mir so“, sagt Robert. Gestern hat er einen Pullover angezündet und aus dem Fenster geworfen. „Aus Spaß“ sagt Robert.
„Ich kann mir nur vorstellen, wenn ich so leben müßte, ich würde hier alles kaputtschlagen“, sagt Rolando da Costa Gomez, der Direktor des Heims.

Wenn du noch mal die Schule schwänzt/klaust/dich herumtreibst/deinen Bruder verhaust, dann kommst du ins Erziehungsheim! Aus der bösen Drohung, deutschen Kindern wohlvertraut, hat der Gesetzgeber gutes Recht gemacht, ein Grundrecht des deutschen Kindes gar: „Jedes deutsche Kind hat ein Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit“, heißt es in Paragraph 1 des Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG).

Etwa 62000 deutsche Kinder sind derzeit zur Wahrung dieses Grundrechts in Heimen untergebracht. Die 2030 Anstalten tragen Namen wie „Haus Sonnenschein“, „Haus Gottesgabe“, „Kinderheim Hänsel und Gretel“ oder heißen schlicht „Städtisches Kinderheim Köln“.

An dem Kölner Heim, dem ehemaligen „Städtischen Waisenhaus“, ist nicht nur der Name schlicht. Die 225 Kinder, denen hier wie Robert „Hilfen zur Erziehung nach Paragraph 5, 6 JWG gewährt“ werden, leben in einem u-förmigen und unförmigen Gebäudekomplex, der an eine Kaserne erinnert. Die Mauern und Zäune rundum und die wuchtige Anstaltskirche, die das Karree zur Stadt hin abriegelt, verstärken das Gefühl von eingeschlossen und abgeschlossen. Vom pädagogischen Konzept und der personellen Ausstattung her ist das Heim nach heutigem Standard optimal ausgerüstet. Auf 27 „familienähnliche Gruppen“ verteilt, werden die Kinder von 120 Erziehern, Sozialarbeitern und Psychologen, einem Arzt, einem Geistlichen und 20 Verwaltungsangestellten betreut.

Das Konzept der „familienähnlichen Erziehung“ hat sich heute allgemein in den Heimen durchgesetzt. Die Heimerziehung wurde, wie auch der Strafvollzug, humanisiert. Der Vergleich ist so abwegig nicht: Bis in die siebziger Jahre wurde mit Prügeln und Isolierzellen, mit Essens- und Deckenentzug, mit Gruppenkeile und dem Wiederaufessen von Erbrochenem zum Wohl des Kindes gewirkt.

In einer Umfrage unter Heimerziehern befürworteten 72 Prozent im Jahr 1968 die Beibehaltung der Isolierzellen. 1978 waren es nur noch neun Prozent. Der Aussage „Es ist wichtiger für ein Kind, daß es Selbstvertrauen hat, als daß es gehorsam ist“ stimmten 1968 ganze fünf Prozent der Erzieher zu. 1978 waren es 93 Prozent.

Die Zustände haben sich gebessert, der Zustand Heimkind ist geblieben.
„Ich war zu frech“, sagt Paul, „hab Scheiben kaputt gemacht. Ich hab so viel angestellt. Geklaut hab ich auch. Hab einen Fernseher in die Luft gejagt.“ „Wieso hast du das alles gemacht?“ „Weil ich wollte, daß mein Vater wieder nach Hause kommt, daß die beiden wieder zusammenkommen. Aber ich merk er jetzt erst, daß ich es verkehrt gemacht habe. Ich hab gedacht, wenn meine Mutter merkt, sie wird mit mir alleine nicht fertig, dann wird sie den Papa holen, und dann wär alles wieder gut.“

Da der Text zulang ist ,kommt der 2 Teil als Antwort von "ewt".

Sternbericht von 1980

ewt @, Köln, Donnerstag, 15.04.2010, 15:18 (vor 5525 Tagen) @ ewt
bearbeitet von ewt, Mittwoch, 28.04.2010, 16:00

2 Teil vom Sternbericht 1980

Statt Pauls Papa kam eine Fürsorgerin, von der Schule alarmiert. Paul war dort „verhaltensauffällig“ geworden. Die Fürsorgerin konstatierte bei Paul einen „gestörten Sozialprozeß“ und „gravierende Verhaltensstörungen“. Sie erwirkte im Einvernehmen mit der Mutter, daß Paul „nach 5, 6 JWG“ ins Heim eingewiesen wurde.
Paul kam mit einer Reisetasche ins Heim. Seine Mutter begleitete ihn und war beim Aufnahmegespräch dabei. Dann ging die Mutter. Sie schloß die Tür des Aufnahmezimmers hinter sich und ging über den langen grün gestrichenen Flur an der Pförtnerloge vorbei nach draußen.

Der 13jährige Paul wurde einer der drei „Aufnahme- und Beobachtungsgruppen“ zugeteilt, die jeder Neuankömmling erst einmal durchläuft. Nachdem er die Reisetasche abgestellt hatte, begleitete ihn eine Erzieherin zur Untersuchung beim Heimarzt. Dann wurde Paul fotografiert, das Foto kam in seine Akte. Für die Polizei, falls er weglaufen sollte.

Pauls neue Familie bestand aus vier Erziehern, drei Frauen und einem Mann, die sich im Schichtdienst ablösten, und acht Kindern im Alter von 6 bis 14 Jahren. Die Erzieher waren nett zu Paul und halfen ihm nach Kräften, damit er sich in seiner neuen Situation zurechtfand.

Nach drei Monaten kam Paul in eine Dauergruppe. Da ist er jetzt seit sechs Wochen. Zwar möchte er „am liebsten wieder nach Hause“, aber „das klappt nicht mehr. Nee!“ So hat er sich hier eingerichtet. „Im Heim ist alles gut, alles!“ sagt Paul, “ich bin ja, ehrlich gesagt, viel lieber hier als zu Hause.“ Das ist natürlich, ehrlich gesagt, eine Lüge. „Mir gefällt's hier gut“, das kann man von jedem Kind hier hören – im gleichen Atemzug mit „Ich möchte nach Hause“.

Dieses Zuhause war für die meisten der Kinder hier mehr Hölle als trautes Heim. Hinter dem Wunsch nach dem Zuhause steht nur selten die Sehnsucht nach den häuslichen Verhältnissen. Der Wunsch nach dem „Zuhause“ umschreibt nur die Sehnsucht nach Geborgenheit, den Wunsch nach Beziehung statt Erziehung.

Ich klingle an der Tür zur „Gruppe Virnich“, so heißt die Gruppenleiterin. Ein kleines Mädchen macht mir auf. Als ich im Flur bin, stellt sich Marion vor mich und streckt mir stumm die ausgebreiteten Arme entgegen, wie in einem automatischen Reflex. Ich nehme sie – ebenso automatisch – auf den Arm. Sie legt die Arme um meinen Hals, schmiegt den Kopf an meine Schulter, steckt einen Daumen in den Mund. Mit Marion auf dem Arm gehe ich durch den langen Flur.

Aus einer Tür kommt ein Junge auf mich zugeschossen. „Wie heißt du? Was machst du hier? Wie lange bleibst du?“ Die Fragen kommen so schnell hintereinander, daß ich keine Zeit habe, dazwischen zu antworten. Frank nimmt mich am Jackenzipfel, wir gehen zu dritt ins Esszimmer. Die Erzieherin Eva räumt den Frühstückstisch ab. Als sie auf mich zukommt, um mich zu begrüßen, löst Marion die Arme von mir und streckt sie Eva entgegen. Frank greift sich sofort einen meiner freien Arme. „Komm mit, ich zeig dir mein Zimmer.“ Er zeigt mir seine Stofftiere, sein Feuerwehrauto, seine Plastikfiguren. Er schenkt mir ein selbstgemaltes Bild. Als ich ihm eine Hand auf die Schulter lege, brechen alle Dämme. Frank wirft die Arme um mich, schmiegt seinen Kopf an meine Seite und sagt zärtlich: „Ich hab dich lieb.“ Ein Junge kommt ins Zimmer gerannt, stürzt sich auf mich und boxt mich. „Laß meinen Papa in Ruhe, Michael!“, sagt Frank zu ihm. Michael boxt Frank. Ich lege einen Arm um Michael, er hört sofort auf zu knuffen und hängt sich an mich. Zu dritt gehen wir über den Flur in Michaels Zimmer.

Nach einer Viertelstunde liege ich auf einem Bett, von vier wildfremden Kindern umklammert: Frank, 8, Michael, 10, Horst, 13, Brigitte, 13. Alle sagen inzwischen Papa zu mir. „Das ist m e i n Papa!“ Frank küßt mich und flüstert mir ins Ohr: „Du bist mein kleiner Schatz. Du gehörst mir.“

Jedes deutsche Kind hat zwar ein „Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit“ doch von der Grundvoraussetzung dafür, von dem elementaren kindlichen Bedürfnis nach einer stabilen Beziehung, die ihm Sicherheit und Geborgenheit gibt, ist im Gesetz keine Rede. Jedes Kind braucht einen „Papa“, irgendeinen Erwachsenen zumindest, der ihm sicher ist. Ich kann Frank’s „Papa“ nicht machen, und die Erzieher hier können’s wohl auch nicht. Wie ruhelose Eichhörnchen auf Futtersuche wirken die Kinder. Die Jagd nach Liebe wird zur tag- und abendfüllenden Beschäftigung.

„Nichts ist selbstverständlich im Heim, außer der Versorgung“, sagt Manfred, ein Altgedienter. Er ist als Säugling hier ins Heim gekommen. Jetzt ist er 19 und steht vor dem Abitur, auch heute noch eine außergewöhnliche Karriere für ein Heimkind. „Ich hab’s halt irgendwie überstanden“, meint er, „aber dafür habe ich auch meinen Preis bezahlt. Das, was du am Nötigsten brauchst und was die draußen ganz selbstverständlich geschenkt kriegen, das bekommst du hier nur als Belohnung oder dafür, daß du lieb und süß bist.“

Manfred hatte Glück, er war „ein süßer Junge, als ich klein war“. Als er aus dem süßen Alter raus war, begann das, was er den „Grabenkampf um die Streicheleinheiten“ nennt. „Da mußt du clever sein und alle Mittel einsetzen, legitime und illegitime: was Nettes machen, brav sein, Leistung bringen, andere bei den Erziehern anschwärzen, dafür gibt’s Streichellohn. Du mußt stark sein. Zeig keinem deine Schwäche! Weine nie vor anderen! Wenn du weinst, wirst du nur ausgelacht von den anderen, und die Erzieher sind das weinen gewohnt.“

Es gibt noch eine andere Möglichkeit, das Nötigste zu kriegen, „aber das ist ein gefährlicher Weg“, sagt Manfred. „Werde zum Problemkind! Hau um dich, mach alles! Da kommt dann der freundliche Heimpsychologe und nimmt dich an die Hand. Da kriegst du schon mal Zuwendung von dem. Dann sagt der den Erziehern, was mit dir los ist, und die kümmern sich dann auch eine Weile um dich. Wenn du allerdings Pech hast, oder wenn du das Spiel übertreibst, dann gibt’s überhaupt keine Zuwendung mehr, dann lassen sie dich links liegen, schreiben dich ab. Da bist du dann praktisch gestorben.“

Nach seiner Schätzung hat Manfred so an die 60 Erzieher gehabt im Laufe der Jahre. „Und jedesmal der gleiche Kampf.“ Die Fluktuation unter Heimerzieher ist enorm. Es gibt Heime, wo im Laufe eines Jahres die komplette Erzieherriege wechselt. Im Städtischen Kinderheim Köln beträgt sie 30 Prozent. „Eigentlich müßte jeder aus der Heimerziehung nach fünf Jahren raus. Dann ist er geschafft“, sagt Heimleiter da Costa Gomez.

Die Erzieher sind nicht schuld an der Misere, sehen sich selbst als „Opfer dieser künstlichen Situation“, wie eine Erzieherin sagt. „Die Kinder wissen ganz genau, daß wir nur hier sind, weil das unser Beruf ist, daß wir genauso wenig freiwillig hier sind wie sie selbst. Manchmal, wenn ich am Wochenende Dienst habe und zum Fenster rausschaue auf die Straße, wo die Autos rumflitzen, dann denk ich: Im Grunde wirst du hier mitbestraft.“

Die moderne „Heimfamilie“ ist ein Etikettenschwindel, eine mit wissenschaftlichem Anspruch verbrämte Augenwischerei. „In der Person des Heimerziehers schneiden sich gesellschaftliche und persönliche, sachliche und menschliche, administrative und kommunikative Belange in einzigartiger Weise. Dennoch ist der Heimerzieher nicht einfach nur dieser Schnittpunkt, sondern eine zugleich agierende und reagierende, planende und ausführende, selbstbestimmende und fremdbestimmte Figur in einer besonderen Position“, heißt es in einer „Einführung in Theorie und Praxis der Heimerziehung“. Wie eine solche Position auszufüllen sei, steht ohne Ironie auch in dem Buch: „Vom Erzieher wird übernatürliches erwartet-„ Wenn er das nicht bringt, so ist das sein Fehler.

Man kann ein schlechter Erzieher sein oder ein guter – für die Betroffenen kommt es auf das Gleiche raus. „Wenn man sie braucht, sind sie nicht da“, sagen die Kinder. Ein Erzieher ist nie „da“, so wie Eltern“ da“ sind, auch wenn sie mal nicht da sind. Nicht das Fehlen von Blutsbanden, sondern das Heimsystem macht eine echte Bindung Erzieher/Kind unmöglich.

Die moderne „Heimfamilie“ ist ein kläglicher Abklatsch Marke trautes Heim, eine Familienhülle ohne Kern. Da diese „Familie“ für den Erzieher nur eine Arbeitsbeziehung auf Zeit sein kann, sind die Kinder ständig vom Verlust der „Eltern“ bedroht. „Das Verlassenwerden, das die Kinder in der schlimmsten Weise erlebt hatten, als sie von ihren Eltern fort mußten, das bekommen sie jetzt hier institutionalisiert vorgeführt“, sagt da Costa Gomez. Ganz abgesehen davon, daß Erzieher kündigen oder Kinder verlegt werden: Die Erzieher gehen abends nach Hause, in ihr echtes Zuhause, zu Frau und Kind womöglich, und zeigen schon dadurch den Kindern, wie es um die „Heimfamilie“ bestellt ist.

Ohne festen Boden unter den Füßen kann für die Kinder schon ein alltägliches Erlebnis zur Katastrophe werden – wenn ein anders Kind bevorzugt wird, wenn es selbst mal nicht beachtet wird. Dann gerät alles ins Wanken: Er mag mich nicht mehr! Ich muß was tun, auf mich aufmerksam machen, lieb sein, was kaputtmachen, jemand verhauen, irgendetwas tun – panische Reaktion, die im pädagogischen Sprachgebrauch dann als „Verhaltensstörungen“ einsortiert werden. Die „Störungen“ werden dann behandelt, der Psychologe wird eingeschaltet, wenn es zu schlimm, das Kind zu „schwierig“ wir. Das Kind bekommt Aufmerksamkeit, „Zuwendung“ – das, was es braucht und sucht, bekommt es nicht. Und so geht das Spiel weiter, die Jagd nach einer Fata Morgana, an deren Ende dann oft die Psychiatrie oder die geschlossene Erziehungsanstalt steht.

„Man könnte sagen, daß wir schon sehr große Fortschritte gemacht haben“, sagt da Costa Gomes, „Fortschritte in der Möglichkeit, Kinder zu vernichten.“

Rolando da Costa Gomez ist nicht gerade ein typischer Heimleiter, der salbungsvolle Ton berufsmäßiger Kinderfreunde fehlt ihm. Er sagt auch nicht, daß die Kinder in seinem Heim „gut aufgehoben“ sind. Das Heim, so wie er es sieht, „soll und darf nur ein Zwischenstück zu einer Kette von Hilfsmaßnahmen sein, eine Notunterkunft, aber kein Dauerverbleib, ich habe auch al an die Heimfamilie geglaubt. An das hier“. Er gibt mir eine Broschüre, eine Festschrift des Heims aus dem Jahre 1967.

„Schauen sie sich das an“, sagt er und deutet auf ein Foto. Auf dem Bild ist ein etwa 18jähriger Junge zu sehen, der im Kreise von zehn süßen Kleinkindern Gitarre spielt. „Der große Bruder singt mit den Kleinen“, steht darunter. „Das war nicht der Bruder, sagt da Costa Gomez, „der hatte auch keine Lust zu singen. Und auch keine Lust Bruder zu sein. Alles Betrug.“

Mit Heimkindern, Kindern in öffentlicher Hand, kann man fast alles treiben. Nur zu gerne läßt sich die Öffentlichkeit hinters Licht führen. Ein Druck auf die Tränendrüse, ein Hauch Kindersüßigkeit, ein bißchen Wohltätigkeit – und jede Lüge wird geglaubt.

Teil 3 des Berichtes in Antwort von "ewt"

Sternbericht von 1980

ewt @, Köln, Donnerstag, 15.04.2010, 15:21 (vor 5525 Tagen) @ ewt
bearbeitet von hütchen, Mittwoch, 31.10.2012, 18:28

Teil 3 des Sternberichtes von 1980

„Das wir wohl wieder so eine Geschichte über die armen Heimkinder.“ Den Satz bekam ich hier öfters von Kindern zu hören, er traf mich jedesmal wie eine Ohrfeige. Ich sah den alten Adenauer vor mir, der in diesem Heim alle Jahr zur Weihnachtszeit die Köpfchen streichelte. Die Kinder wehren sich gegen das Mitleid, das sich an ihnen austobt, und in dem Wort „Heimkind“ sehen sie die Diskriminierung. „Was ist denn so interessant an uns! Wir sind doch ganz normale Menschen“, sagt mir ein kleiner Junge.

Daß sie keine „normalen Menschen“ sind, dass bekommen sie nicht nur drinnen zu spüren. Draußen gehört das Mitleid noch zum Besten, was ihnen begegnen kann. Nach Möglichkeit versuchen sie ihre Adresse geheimzuhalten. „Wenn draußen jemand erfährt, daß du aus dem Heim kommst, dann fällt bei denen doch sofort die Klappe“, sagt Monika, „dann bist du unten durch, ein Verbrecher, ein Asozialer.“

Da das Heim nicht anders den als Strafe von den Kindern empfunden werden kann und es für eine Strafe einen Grund geben muß, machen sie sich selbst zum Schuldigen und sagen: „Ich bin hier wegen Klauen“, wie ein Knacki im Knast. Draußen bekommen sie das bestätigt, und so, rundum wie Verbrecher behandelt, werden sie es dann oft auch.

„Heime produzieren Heimkinder“, sagt da Costa Gomez. Er versucht nach Kräften, die Produktion ins Stocken zu bringen. Er bemüht sich darum, daß die Familien mit pädagogischen und finanziellen Hilfen „behandelt“ werden, um den Kindern die Rückkehr ins Elternhaus zu ermöglichen. Wo das nicht möglich ist, versucht er, die Kinder in Pflegefamilien oder zur Adoption zu vermitteln. In den letzten sechs Jahren wurden so 322 Kinder in Familien untergebracht, „schwierige“ Kinder zum großen Teil, nach gängiger Heimauffassung „nicht familienfähig“.

„Es gibt keine schwierigen Kinder, es gibt nur schwierige Erzieher“, sagt da Costa Gomez. „Kinder wehren sich mit ihrer ganzen Kraft gegen ihre Lebenssituation, so wie sie hier ist. Und diese gesunde Reaktion wir dann mit dem Etikett „schwierig“ belegt.“

Er hat seine Erfahrungen mit schwierigen und schwierigsten Kindern. Mit dem fünfjährigen Rolf etwa. „Der hat Sachen gemacht, das können Sie sich nicht vorstellen. Der hat den anderen Kindern nachts im Schlaf Drahtschlingen um den Hals gelegt.“ Eines Tages kam die Erzieherin, total geschafft, mit Rolf in sein Büro. „Da stand der Junge zwischen meinen Knien, und dann fing er plötzlich an zu schreien, wie ein Tier zu schreien: ‚Schlag mich tot! Schlag mich tot!’ Da wußte ich, daß was passieren mußte.“

Im Heim arbeitete damals eine Praktikantin, die „es“ hatte, „das, was man nicht in der Schule lernt“. Die kümmerte sich dann ausschließlich um den kleinen Rolf. Nach einem halben Jahr war Rolf okay, er wurde zur Adoption vermittelt und besucht heute das Gymnasium. „Wenn ich seinen Schrei damals nicht gehört hätte, dann wäre der Rolf heute in der Psychiatrie.“

Wenn man Kinder von Objekten erzieherischer Maßnahmen zu Partnern einer Beziehung macht, ihnen auf deutsch „Liebe und Geborgenheit“ vermittelt, sind solche Erfolge wie mit Rolf möglich. Im Heim geht so was nur in Ausnahmefällen und gegen die Routine. In der Regel werden solche Kinder als Schwarzer Peter von Heim zu Heim geschoben.

Diese Kinderverschiebungen haben nachgelassen in den letzen Jahren. Die Heime überlegen es sich heute dreimal, bevor sie ein Kind abgeben: Die Kinder werden knapp. Durch den Geburtenrückgang ist auch die Zahl der Heimkinder gesunken, in den letzten Jahren um etwa ein Drittel. „Der Krieg um die Kinder ist ausgebrochen“, sagt da Costa Gomez.


Die freien Heimträger, allen voran Diakonisches Werk und Caritas, die noch vor einigen Jahren volle Häuser hatten, müssen heute bei den Jugendämtern Klinken putzen wie Vertreter. „Wenn die Heime langfristig existieren wollen, sind sie davon abhängig, daß die örtlichen Jugendämter ihnen Kinder und Jugendliche zuweisen“, heißt es in einer Studie des Diakonischen Werks.

Zu diesem „langfristigen Existieren“ wird jedes Kind gebraucht, weil die Heime ihre Kosten nicht pauschal erstattet bekommen, sondern pro Kinderkopf bezahlt werden. In diesem Pflegesatz sind alle Kosten, einschließlich der Investitionen für Gebäude und Einrichtung, enthalten. Sinkt die Auslastung unter eine gewisse Grenze, ist der Betrieb nicht mehr rentabel, und das Heim muß dichtmachen wie ein Hotel auch.

Auf einer Sitzung des Kölner Jugendwohlfahrtsausschusses beklagte sich Pfarrer Volker Zepel vom Diakonischen Werk bitter über die „unkollegiale Zusammenarbeit“ des Jugendamtes, das da Costa Gomez’ kommunalem Heim zu viele Kinder zuteile. Wo man sie dann auch noch laufen läßt: Von den 318 Neuaufnahmen des Jahres 1981 waren am Ende des Jahres nur 18 im Heim. 195 kamen in ihre Familie zurück, 52 wurden in Pflegefamilien und zur Adoption vermittelt, zehn wegen Volljährigkeit entlassen, und 43 wurden anderen Heimen übergeben. Die durchschnittliche Verweildauer beträgt zwei Jahre. In den Heimen der freien Träger im Kölner Raum liegt sie bei zehn Jahren – welches Hotel schmeißt schon seine zahlenden Gäste auf die Straße.

Herr Gomez ist nicht wohlgelitten in Heimkreisen. Die CDU-Fraktion hat schon einmal, „aus Rentabilitätsgründen“, die Schließung seines Heims gefordert. Die Kinder sollten den freien Trägern zugeschlagen werden. Da Costa Gomez wehrte sich erfolgreich. „Ich kämpfe auch um die Kinder. Aber damit sie nicht in irgendwelchen Heimen verschwinden.“

Das „Wohl des Kindes“ ist auch eine Frage der Marktlage. Wie viele Kinder ins Heim kommen, bestimmen die Jugendämter. Wie viele wieder entlassen werden, die Heime. Ein Heimleiter, der „eigentlich auch lieber den Kindern das Heim ersparen möchte“, sagte mir: „Ich darf nicht nur an die Kinder denken, ich habe ja schließlich auch eine Verantwortung gegenüber meinen Mitarbeitern.“

Um ihre Gäste zu behalten, schrecken sie vor nichts zurück. „Der Kinderklau geht um“, sagt mir Georg Endemann, Regierungsdirektor in Hannover und bis vor einem Jahr zuständig für die Heimaufsicht in Niedersachsen. „Wenn's sein muß, arbeiten die Heime ohne Skrupel mit falschen Diagnosen und falschen Berichten, um die Kinder nicht rausgeben zu müssen.“

Heime sind sicher notwendig. Man braucht Auffangstationen für Kinder in Notsituationen. Denn keinesfalls ist wahr, daß die schlechteste Familie besser wäre als das beste Heim. Nur: Das beste Heim kann niemals Familie ersetzen.

„Was im deutschen Heimwesen läuft, ist ein Verbrechen“, sagt Hans Dieter Schink. Er ist ein bekannter Mann in deutschen Heimen. In manchen hängt sogar sein Foto an der Pforte. Allerdings nicht überm Weihwasserbecken: Herr Schink hat Hausverbot in fast allen deutschen Heimen. Schink war bis vor kurzem ein Franziskanerpater. Vor zwölf Jahren gründet er in Münster die „Gesellschaft für Sozialwaisen“ (Geso), eine überregionale Adoptions- und Pflegekinderzentrale. Die „Geso“ arbeitete erfolgreich. Pater Schink holte die Kinder reihenweise aus den Heimen. Dies Wirken mißfiel bald seinen Oberen. Die Interessen der Kirche im Heimgeschäft waren gefährdet. Als gar zwei kirchliche Heime ihre Pforten schließen mußten - der Pater hatte sie ausgetrocknet -, wurden der „Geso“ die Büroräume im Kloster gekündigt, und Pater Schink erhielt den Marschbefehl in ein Kloster nach Rom. Als der Pater blieb, wurde er wegen „fortgesetzen Ungehorsams“ aus dem Orden ausgeschlossen. Den Ausschluß hat sich der Pater redlich verdient. In zehn Jahren hat die „Geso“ 2300 Kinder in Familien vermittelt.

„Es gibt nichts zu reformieren im Heimwesen“, sagt Hans Dieter Schink, „dieses System kann man nur zerschlagen. Nach allen pädagogischen Erkenntnissen ist es widersinnig, ein Kind zu therapeutischen Zwecken in ein Heim zu geben. Und auf dieser großen Lüge basiert unser gesamtes Jugendhilfewesen.“

„Wenn jeder von uns zwei Kinder mit nach Hause nähme“, sagt eine Erzieherin aus dem Kölner Kinderheim, „dann wäre das Problem gelöst.“ Das Geld dazu wäre da. „Für das Geld, das ein Heimplatz kostet, könnte man neben jedes Kind einen Sozialarbeiter stellen, bezahlt nach BAT 4“, sagt Hans Dieter Schink.

Ein Platz im Kölner Heim kostet circa 4000 Mark im Monat. „wen ich mir das vorstelle! Was man mit dem Geld alles machen könnte. Da könnte man ein Haus mieten zu mehreren, einen Erzieher mitnehmen und dann einfach dort leben“, sagt Monika. Sie ist 14, die Beste in ihrer Klasse und will Abitur machen. Sie hat sieben Jahre in Heimen zugebracht, „meine halbe Zeit“. Monika schwankt zwischen Resignation und Zorn. „Dafür, daß wir Pech mit unseren Eltern gehabt haben, werden wir hier auch noch bestraft.“


Mein besonderer Dank gilt hütchen, die sich die Mühe gemacht hat, den ganzen Bericht abzutippen,Damit wir ihn lesen können.

Da der Bericht von 1980 ist ,wurde die alte Rechtschreibweise beibehalten.

Sternbericht von 1980

bernd @, Bergisches Land, Donnerstag, 15.04.2010, 15:44 (vor 5525 Tagen) @ ewt

Klasse :-) :-)
den text wieder zu lesen.
das tippen, wirklich gut !!
bernd

Avatar

Sternbericht von 1980

Klaus Grube ⌂ @, Hellenthal, Donnerstag, 15.04.2010, 16:15 (vor 5525 Tagen) @ bernd

Hoi,
ich schlisse mich einfach mal Bernd an. Hut ab Mo. Ich hätte da noch ein Buch in altdeutscher Schrift Mo......

--
Es gibt immer einen Weg zu uns allen - wir müssen es nur wollen
Mit lieben Grüßen euer Klaus
Internet: http://www.kinderheim-Koeln-suelz.de
Verantwortlich und Kontakt: https://kinderheim-koeln-suelz.de/?page_id=28

Avatar

@ewt, bernd, klaus: Sternbericht von 1980

hütchen @, köln, Donnerstag, 15.04.2010, 17:17 (vor 5525 Tagen) @ Klaus Grube

hallo ralf,
schönen dank dass du meine fußnote übernommen hast (und dank für den dank).
hallo bernd,
danke.
und nun zu klaus: (also hör mal, so is aber bald nix mehr mit herzallerliebst! ;-))
immer her mit dem buch - man wächst an seinen aufgaben :-D (hoffentlich)

mit schriftlichen grüßen
mo

Sternbericht von 1980

bernd @, Bergisches Land, Donnerstag, 15.04.2010, 17:45 (vor 5525 Tagen) @ ewt
bearbeitet von bernd, Samstag, 15.05.2010, 18:59

:-|

Avatar

Ich bin dabei !!!

Inge @, Köln, Freitag, 16.04.2010, 08:57 (vor 5525 Tagen) @ bernd

Hi Bernd,
Du sagst,es sei Unrecht eine Hauswand zu bemalen.
Unrecht ist das,was vielen von uns hinter diesen Hauswänden wiederfahren ist!!!
Wenn ich durch beschriften oder bemalen dieser Wände dazu beitragen kann,das wir und unser Erlebtes nicht in Vergessenheit geraten,dann male ich Dir ganz Sülz an!!:-D :-D :-D
LG Inge

--
yes we can...

RSS-Feed dieser Diskussion

powered by my little forum