Sternbericht von 1980 (Presseberichte)
Orginalabschrift vom Sternbricht 1980.
Zuhause im Heim (*die Namen aller Kinder sind von der Redakltion geändert)
Jedes Kind hat ein Recht auf „Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit“, so steht es im Jugendwohlfahrtsgesetz. Stern-Autor Rainer Joedecke hat diese Erziehung im städtischen Kinderheim Köln beobachtet und fotografiert. Einem Heim, das als vorbildlich gilt.
Zwei Jungen sitzen nach der Schule auf den Betten in ihrem Zimmer. Im Kölner Kinderheim kümmern sich 120 Erzieher, Sozialarbeiter und Psychologen um 225 Kinder. Eine optimale Ausstattung, sagen die Behörden. „Aber einen, der für dich da ist, gibt es nicht“, sagen die Kinder.
Jedes Kind hat seine Akte. Darin sind Lebenslauf, ärztliche Untersuchungsergebnisse, psychologische Gutachten, Notizen der Erzieher („Robert zeigt schwere Verhaltensstörungen“, „Der Junge ist nicht familienfähig“). Und Fotos der Heimkinder – für die Polizei, falls eins ausreißt.
Drei Jungen toben im Treppenhaus des städtischen Kinderheims Köln. Draußen gibt es kein Kind gern zu, dass es in dem kasernenähnlichen Haus lebt. „Wenn jemand erfährt, daß du aus dem Heim kommst, fällt sofort die Klappe, dann bist du unten durch“
„Hier gefällt's mir sehr gut“, sagt *Robert. „Man hat hier sehr viel Auslauf, man darf raus, wann man will, es gibt 27 Mark Taschengeld, man kann mal in die Stadt fahren.“ Mit dem Essen ist Robert auch zufrieden. „Sehr reichlich hier! Meistens ist Fleisch dabei, jede Woche gibt’s einmal Eis.“
Robert ist zwölf Jahre alt. Am 18. Februar 1982, „Karneval Donnerstag nachmittags“, erinnert sich Robert, wurde er hier eingeliefert.
„Meistens klappt es ohne weinen“, sagt eine Erzieherin. „Nur die Kleinen, die weinen schon mal, wenn sei hier ankommen. Denen helfen dann die anderen Kinder aus der Gruppe, daß die da drüber weg kommen.“
Robert hat nicht geweint, als er hier ankam. Dies ist bereits sein drittes Heim. Er sieht die Sache so: “Für Kinder, die keine Eltern haben oder die die Eltern nicht haben wollen, ist das Heim sehr gut. Das ist besser, als wenn man nur auf der Straße ausgesetzt und einfach da liegengelassen wird.“
Robert hat ein Bett und einen Schrank. Im Schrank hat er seine Kleidung und seine persönliche Habe: vier Gruselbücher, ein Stapel Mickymaushefte, eine Zigarrenkiste mit Fußballbildern, eine Taschenlampe und ein vertrocknetes Lebkuchenherz. Einen Packen Tätowier-Abziehbilder hat er unterm Kopfkissen versteckt. „Da sind alle scharf drauf, die versteck ich lieber hier. Abschließen kann man hier ja nichts.“
Auf seinem Bett liegt ein großer gelber Teddy. Den hat er aus dem Spendenkeller. Die bunte Porzellanmaske über dem Bett und eine kleine Bastmatte mit einem aufgestickten Vogel hat er sich auch dort geholt. „Das find ich gut hier, den Keller“, sagt Robert, „da kann man sich alles Mögliche aussuche, was die Leute da draußen für uns gespendet haben.“
Robert möchte gerne hierbleiben. „Ich glaube allerdings, daß ich nicht bleiben kann. Ich habe gehört, daß ich wahrscheinlich nach Hoffnungsthal komme. Ich weiß nicht, wies da ist, wie die Erzieher sind. Aber solange ich weiß, daß ich gut gepflegt bin und nicht draußen schlafen muß, wie wenn ich wieder abhauen würde …“
Robert machte einen ruhigen und überlegten Eindruck. Ein leichtes Bröckeln in der Stimme manchmal, ein Seitenblick, doch Robert hat das schnell wieder unter Kontrolle. Probleme hat er keine, sagt er. „Und wenn, dann könnte ich runtergehn zu Frau Unuane - das ist meine Vorgesetzte sozusagen.“
Robert hat eine Akte, wie alle Kinder hier. Da steht alles drin über Robert, wo er schon überall war, wie oft er abgehauen ist. „Robert zeigt schwere Verhaltensstörrungen“, steht da unter anderem. Und seine Erzieher sagen: „Der Junge ist kaputt, ein sehr schwieriges Kind.“
Manchmal dreht der ruhige Robert nämlich durch oder zertrümmert einen Stuhl oder eine Scheibe. „Das passiert mir so“, sagt Robert. Gestern hat er einen Pullover angezündet und aus dem Fenster geworfen. „Aus Spaß“ sagt Robert.
„Ich kann mir nur vorstellen, wenn ich so leben müßte, ich würde hier alles kaputtschlagen“, sagt Rolando da Costa Gomez, der Direktor des Heims.
Wenn du noch mal die Schule schwänzt/klaust/dich herumtreibst/deinen Bruder verhaust, dann kommst du ins Erziehungsheim! Aus der bösen Drohung, deutschen Kindern wohlvertraut, hat der Gesetzgeber gutes Recht gemacht, ein Grundrecht des deutschen Kindes gar: „Jedes deutsche Kind hat ein Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit“, heißt es in Paragraph 1 des Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG).
Etwa 62000 deutsche Kinder sind derzeit zur Wahrung dieses Grundrechts in Heimen untergebracht. Die 2030 Anstalten tragen Namen wie „Haus Sonnenschein“, „Haus Gottesgabe“, „Kinderheim Hänsel und Gretel“ oder heißen schlicht „Städtisches Kinderheim Köln“.
An dem Kölner Heim, dem ehemaligen „Städtischen Waisenhaus“, ist nicht nur der Name schlicht. Die 225 Kinder, denen hier wie Robert „Hilfen zur Erziehung nach Paragraph 5, 6 JWG gewährt“ werden, leben in einem u-förmigen und unförmigen Gebäudekomplex, der an eine Kaserne erinnert. Die Mauern und Zäune rundum und die wuchtige Anstaltskirche, die das Karree zur Stadt hin abriegelt, verstärken das Gefühl von eingeschlossen und abgeschlossen. Vom pädagogischen Konzept und der personellen Ausstattung her ist das Heim nach heutigem Standard optimal ausgerüstet. Auf 27 „familienähnliche Gruppen“ verteilt, werden die Kinder von 120 Erziehern, Sozialarbeitern und Psychologen, einem Arzt, einem Geistlichen und 20 Verwaltungsangestellten betreut.
Das Konzept der „familienähnlichen Erziehung“ hat sich heute allgemein in den Heimen durchgesetzt. Die Heimerziehung wurde, wie auch der Strafvollzug, humanisiert. Der Vergleich ist so abwegig nicht: Bis in die siebziger Jahre wurde mit Prügeln und Isolierzellen, mit Essens- und Deckenentzug, mit Gruppenkeile und dem Wiederaufessen von Erbrochenem zum Wohl des Kindes gewirkt.
In einer Umfrage unter Heimerziehern befürworteten 72 Prozent im Jahr 1968 die Beibehaltung der Isolierzellen. 1978 waren es nur noch neun Prozent. Der Aussage „Es ist wichtiger für ein Kind, daß es Selbstvertrauen hat, als daß es gehorsam ist“ stimmten 1968 ganze fünf Prozent der Erzieher zu. 1978 waren es 93 Prozent.
Die Zustände haben sich gebessert, der Zustand Heimkind ist geblieben.
„Ich war zu frech“, sagt Paul, „hab Scheiben kaputt gemacht. Ich hab so viel angestellt. Geklaut hab ich auch. Hab einen Fernseher in die Luft gejagt.“ „Wieso hast du das alles gemacht?“ „Weil ich wollte, daß mein Vater wieder nach Hause kommt, daß die beiden wieder zusammenkommen. Aber ich merk er jetzt erst, daß ich es verkehrt gemacht habe. Ich hab gedacht, wenn meine Mutter merkt, sie wird mit mir alleine nicht fertig, dann wird sie den Papa holen, und dann wär alles wieder gut.“
Da der Text zulang ist ,kommt der 2 Teil als Antwort von "ewt".